Das Wasser rauscht strudelnd an uns vorüber und nach einer Weile sehe ich davon ab, jede Woge argwöhnisch zu begutachten. Wir sitzen in ausreichender Entfernung am Ufer. Mit jeder Minute fühle ich mich sicherer. Kein Ungeheuer ist aufgetaucht und ich fasse zunehmend Vertrauen, dass es so bleiben wird. Auch die Harpyen am Himmel scheinen sich nicht für uns zu interessieren und drehen hoch oben völlig unbeeindruckt ihre Kreise über den Gipfeln der Felsen. Irgendwie schaffe ich es sogar, in Aljans Gesellschaft zu entspannen. Ich weiß nicht einmal, ob es an ihm oder dem gleichmäßigen Rauschen der Wassermassen liegt. Aber meine Gedanken wandern zurück zu meiner Umgebung und der ganzen Situation, in der ich stecke.
"Wie funktioniert das eigentlich mit euren Höllen? Wie erschafft ihr eine?", wende ich mich an Aljan. Eigentlich hatte ich darüber nachgedacht, wie wohl sein persönlicher Bereich in dieser unfassbaren Welt aussehen könnte. Auf diese Frage würde ich auch jetzt wohl keine Antwort bekommen, also stürze ich mich auf die nächstbeste.
"Es ist nicht viel anders, als das Ausdenken einer Geschichte. Könntest du mir erklären, wie man sich eine Geschichte ausdenkt?"
Während ich noch über meine Antwort nachdenke, redet er weiter.
"Man tut es einfach und dann ist sie da."
"Funktioniert das nur mit den Welten oder auch mit den Lebewesen darin?"
"Sowohl als auch."
"Interessant." Seine Antworten übersteigen mein Auffassungsvermögen, trotzdem muss ich mehr erfahren. "Gibt es da gar keinen Unterschied? Und was ist schwieriger?"
Aljan stützt sein Kinn in die Hand. Mit der leicht vorgebeugten Haltung erinnert er mich ein wenig an diese berühmte Skulptur eines bekannten französischen Bildhauers.
"Zuerst sollte die Welt da sein, dann kommt der Rest von allein. Eigentlich sind wir ja auch gar nicht diejenigen, die sich diese Welten ausdenken. Das beruht alles auf den Vorstellungen von Menschen. Wir setzen sie nur um. Wir sind also eigentlich nur so etwas wie Baumeister. Und ja, manchmal ist es schon eine Herausforderung."
Mir drängt sich ein Gedanke auf. "Dann sind Götter und Dämonen eigentlich nicht viel mehr als Hirngespinste."
"Wenn du so-" Mein Schrei unterbricht Aljans Antwort. Hinter ihm erhebt sich eine Gestalt aus dem Untergrund, halb Mensch, halb geflügeltes Wesen mit flammendem roten Haar. Doch wo ihre Arme hätten sein sollen, sind orangerote Flügel und an Stelle ihrer Füße sind lange Klauen. Sie schwebt über den Boden und direkt auf uns zu. Ehe ich mich versehe, bin ich hinter Aljan gekrabbelt und beobachte das Wesen hinter seinem Rücken hervor. Es stößt ein zischendes Geräusch aus, während es immer näher und näher auf uns zukommt. Aljans breite Schultern sind gestrafft und mit einem Satz springt er auf.
"Komm nicht näher", ruft er und tatsächlich scheint das Wesen auf ihn zu hören. Es bleibt einige Meter vor uns stehen, ohne den Boden zu berühren. Die langen, roten Haare richten sich auf, beginnen zu schweben und umfließen das Gesicht wie Schlangen. Ich kann den Blick nicht abwenden. Sie hat ein wunderschönes Gesicht. Ebenmäßige Gesichtzüge, volle Lippen, feurige Augen. Dann beginnen ihre Haare zu erstrahlen wie Flammen. Eine brennende Aura umflutet ihr Haupt, das Zischen wird lauter. Es muss von ihrem Flammenhaar ausgehen. Die Flügel flattern unentwegt und sie klappert mit den klauenbesetzten Scheren an deren Ende. Aber sie sagt nichts. Sie schaut uns nur an.
"Was willst du?", fragt Aljan und ich meine einen drohenden Unterton in seiner Stimme zu vernehmen.
Das Flammenwesen schürzt die Lippen als wollte sie pusten, aber sie stößt nur einen zischenden Laut aus. Es klingt, als wolle sie uns zum Schweigen bringen. Aljans streckt seine Hand nach hinten aus und drückt gegen meinen Oberschenkel. Auch ohne Worte verstehe ich, was er mir sagen will. Rückzug. Aber in unserem Rücken befindet sich der Fluss. Da führt kein Weg weiter. Ich erstarre und erkenne im selben Augenblick, was er mir mitteilen will. Das Floß, das er nachlässig auf die Steine geschoben hat.
Noch immer schwebt das Wesen vor uns auf und nieder, zischend und von Flammen umgeben und wedelt mit den Flügeln.
"Eine Empusa", flüstert Aljan und verstärkt den Druck seiner Hand an meiner Seite. "Ein Schreckgespenst, geschickt, um Wanderer zu erschrecken. Keine Ahnung, was sie von uns will. Besser wir verschwinden."
Langsam macht er einen Schritt zurück und schiebt mich mit zurück in Richtung des Wassers. Die Empusa beobachtet uns, verharrt aber an Ort und Stelle. Behutsam macht Aljan einen weiteren Schritt.
Plötzlich fährt die Empusa ihre Flügel aus und lässt sie in unsere Richtung schnalzen. Ihr Zischen wird lauter. Drohender. Die Flammenhaare züngeln uns entgegen. Hastig mache ich weiter Schritte nach hinten, ohne dass Aljan mich drängen muss. Er scheint ebenfalls Angst zu haben. Anders kann ich mir seine Reaktion nicht erklären. Sie scheint gefährlich zu sein.
In diesem Augenblick stößt mein Fuß gegen etwas Hartes und ich bleibe daran hängen. Ein hervorstehender Stein bremst meine Flucht. Im nächsten Moment taumele ich rückwärts und verliere den Halt. Mit dem Hintern voran stoße ich auf den Boden und spüre etwas Kaltes, Nasses. Natürlich bin ich direkt im Wasser gelandet. Ich kreische auf.
Dann bricht der Tumult los. Die Empusa reißt sich aus ihrer Starre und zischt auf uns zu. Ein gut platzierter Flügelschlag trifft Aljan in die Brust. Die klauenbesetzten Enden verursachen ein Geräusch auf seiner Kleidung. Die Wucht des Schlages wirft auch ihn zu Boden. Gerade als ich mich aufrappeln will, landet er auf mir und wirft mich zurück. Dieses Mal landet mein Oberkörper im Wasser. Ich kann gerade noch rechtzeitig meine Ellbogen ausfahren und mich abfangen, bevor auch mein Kopf untertaucht. Aljan kommt mit einem eleganten Satz zum Stehen und schiebt das Floß in einer energischen Bewegung ins Wasser. Halb zieht er mich, halb springe ich darauf. Nur weg hier. Mit kreischenden Schreilauten fahren die klauenbesetzten Flügel erneut auf uns hernieder, aber dieses Mal verfehlt sie uns. Auch die Haarflammen greifen nach mir, sind aber zu weit weg, um mich zu erreichen. Ich will nicht wissen, wie sich eine Berührung anfühlt und ob sie mich verbrennen würde. Aljan drückt mir einen harten Gegenstand in die Hand und beginnt damit, uns vom Ufer abzustoßen. Nichts wie raus aus dem flachen Wasser, schnell in die Sicherheit der tiefen Strudel der Mitte.
Ich finde einen langen Ruderstab in meiner Hand. Eilig beginne ich damit, Aljan zu helfen, uns fortzuschieben. Dann ist das Wasser tief genug und wir können endlich rudern. Und Aljan rudert, als würde es um sein Leben gehen. Ich zögere nicht. Die Schrecken der Tiefe sind vergessen. Die Empusa verharrt am Ufer. Sie schwebt auf und ab. Fast wirkt es, als würde sie hüpfen wie ein kleines Kind. Freut sie sich etwa? Wollte sie uns vielleicht genau da haben, wo wir jetzt sind? Ein kaltes Entsetzen ergreift mich. Sind wir ihr in die Falle gegangen? Meine Hände beenden das hektische Rudern und umkrampfen den Knauf, so dass meine Fingerknöchel hervortreten.
Ich blicke mich um, halte den Atem an, erwarte direkt in das gierige Maul eines Ungeheuers zu blicken und im nächsten Augenblick verschlungen zu werden. Aber da ist nichts. Nichts Verdächtiges. Die Fluten tosen und schaukeln unser Floß so sehr, dass ich unter normalen Umständen sicher Angst hätte, dass es kentern könnte. Aber daran verschwende ich gerade keinen Gedanken. Kein Seemonster taucht auf. Das Ungeheuer am Ufer reicht auch völlig. Sie wirkt kein bisschen wütend, dass ihre Beute entkommen ist. Im Gegenteil. Mein Eindruck verstärkt sich. Sie wirkt triumphierend. Wahrscheinlich spielt sie mit uns. Lässt uns etwas Vorsprung, um uns dann zu jagen.
"Sie kann doch fliegen", entfährt es mir. Aber das Tosen schluckt meine Worte.
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Brennende Feuer - Dunkle Schatten
FantasyAlles beginnt mit einer außerkörperlichen Erfahrung für Dalerana. Dann steigt die junge Frau hinab in das Reich des Todes, wo nichts mehr ist, wie es sein sollte. Eine Katastrophe droht, die Arbeit von Jahrtausenden in endlose Abgründe zu reißen. Au...