20) Totengericht

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Wie in einem Labyrinth mündet ein Gang in den nächsten. Die Wandmalereien sehen überall ähnlich aus und ich habe längst die Orientierung verloren.

Manche Türen lässt Aljan liegen, vor anderen murmelt er Worte, sodass sich die Eingänge auftun und uns von der einen Kammer in die nächste führen. Die Kammern sind nur geringfügig breiter, als die Gänge. Aus oberirdischen Fensterspalten dringt ein wenig Licht ein und wirft die Wände in seltsame Szenen. Menschen auf Booten, Krokodile im Wasser, Schilfrohre und Kraniche. Menschen, die ihre Hände ausstrecken und andere, die ihnen etwas darreichen. Mit Speeren bewaffnete Männer. Getreideähren, Amphoren und bekannte Hieroglyphen, auch wenn ich deren Bedeutung nicht kenne.

Mir ist, als lauere in mancher Ecke ein Wesen, das uns still und heimlich beobachtet. Aber wann immer ich einen genaueren Blick in die dunkleren Winkel werfe, sind sie verlassen. Zur Sicherheit halte ich mich eng an meinen Begleiter.

Ein weiterer Durchlass führt uns in eine überraschend große Kammer. Auch auf den Wänden tummeln sich ähnliche Wandmalereien. In regelmäßigen Abständen ragen Wandvorsprüge in den Raum hinein, an jedem von ihnen brennt eine Fackel in ihrer Halterung. Die Flammen tauchen die Kammer in ein wechselspiel aus Licht und Schatten. Gänsehaut hat meine Arme überzogen. Ich erwarte, dass hinter jedem Wandvorsprung jemand auf uns lauert. Aber die dunklen Schatten dahinter sind leer.

Je weiter wir den Raum durchschreiten, desto größer werden die aufgemalten Szenen. Inzwischen ragen die Personen lebensgroß neben uns auf. Dann durchdringt ein Schrei die Stille. Es ist mein Schrei.

Hinter dem nächsten Wandvorsprung steht jemand. Ich sehe nur den fratzenartigen Kopf, der zu mir herunterschaut. Aber er bewegt sich nicht.

"Es ist nur eine Statue", beruhigt mich Aljan. Mein Herz hämmert.

"Natürlich. Ich habe mich nur erschrocken."

Die Gottheit mit Schakalkopf wirkt beinahe lebendig. Ihr gegenüber steht eine Figur mit einem Ibiskopf, einem langen spitzen Schnabel, der direkt auf mich hinunter zeigt.

Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass mir beide nachschauen, als ich an ihnen vorübergehe.

Dann enden die Wandvorsprünge und zu unserer rechten Seite öffnet sich der Raum in eine weitere Nische. Auch darin stehen Statuen zu beiden Seiten einer großen Pendelwaage.

"Die Totenwaage", flüstere ich in die Stille des Raumes. Mich überkommt das Gefühl in einem Museum zu sein. Einem sehr guten, dass die Kulisse eindrucksvoll und lebensecht darstellt. Fast erwarte ich, dass die Waage, die von einer knieenden Gottheit mit Schakalskopf justiert wird, jeden Moment in die eine oder andere Richtung ausschlagen könnte. Ich habe sogar den Atem angehalten. Langsam atme ich aus.

"Bitte nicht die Ausstellungsstücke berühren", flüstere ich. "Wo steht das dazugehörige Schild zum Nachlesen?"

Aljan bedenkt mich mit einem Blick mit weit hochgezogenen Augenbrauen. "Wie bitte?"

"Ach nichts", murmele ich. Wenn ich angespannt bin, geraten meine Witze eher platt.

Nur die lange, etwa drei Meter breite Furche im Boden stört das Gesamtbild. Sie macht ein Berühren der Totengericht-Szene ohnehin unmöglich. Vorsichtig mache ich einen Schritt darauf zu. Ein sportlicher Mensch könnte vielleicht darüberspringen, ein sehr sportlicher. Ich also nicht. Will ich auch gar nicht. Aber ich will sehen, wie tief es hinuntergeht. Es ist, wie Aljan gesagt hat. "Man sieht kein Ende."

Aljan schüttelt den Kopf, sodass seine dunklen Locken fliegen.

Der Spalt erstreckt sich über die gesamte Länge der Nische. "Man kann nicht einmal darum herum."

Erneut kriecht eine Gänsehaut über meine Arme. Hier sind dunkle Mächte am Werk. Ich spüre einen aufsteigenden kalten Luftzug.

"Ich habe gedacht", Aljan kratzt sich am Kopf, "du könntest vielleicht irgendwas ausprobieren?"

Ich stehe mit einigem Abstand vor dem Abgrund. "Und was?"

Er zuckt die Schultern.

"Abgrund, schließe dich!", versuche ich es auf gut Glück. Nichts passiert. Der Riss ragt weiterhin weit und breit vor uns auf. Völlig unbeeindruckt.

"Bitte?", werfe ich hinterher. Aber nichts tut sich.

"So einfach ist es also nicht", stelle ich fest.

"Vielleicht, wenn du fest genug daran glaubst?"

Ich schließe die Augen. Stelle mir den Raum vor, wie er einst ausgesehen haben muss. "Abgrund schließe dich!", sage ich mit fester Stimme.

Meine Worte hallen von den Wänden wider, den Riss hat es aber nicht beeindruckt.

Einer spontanen Eingebung folgend spucke ich hinunter. "Das mache ich manchmal, wenn ich an einem Fluss stehe. Meinen Speichel auf Reisen schicken. Ist so ein Ritual von mir", erkläre ich ein wenig verlegen.

"Scheint leider kein Heilmittel zu sein", stellt Aljan fest. "Schade, hätte klappen können." Er grinst ein wenig.

Ich stemme die Hände in die Hüfte und wende mich ihm zu. "Hast du noch weitere Ideen?"

Seine Stirn liegt in Falten. "Eine Möglichkeit ist mir noch in den Sinn gekommen."

"Und die wäre?" Er redet nicht weiter. Ich schaue ihn erwartungsvoll an, aber mir dämmert bereits, dass mir sein Vorschlag nicht gefallen wird.

Und tatsächlich, wie aus dem Nichts erscheint vor ihm auf dem Boden ein Ausrüstungspaket. Zu oberst liegt ein schwarzer Gurt aus Syntethikmaterial. Jede Menge Schließen, Schnallen und Karabiner sind daran befestigt und ein langes Band aus demselben Material.

"Ich würde dich gerne abseilen."

Ich schüttel den Kopf, sodass meine Haare in mein Gesicht fallen und mir die Sicht versperren. "Vergiss es!", zische ich und wische mir die Strähnen mit einer entschlossenen Geste aus dem Gesicht. "Niemals!"

Brennende Feuer - Dunkle SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt