36) Tanz der Toten

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Auf der weißen Wand neben meiner Tür erscheint eine Leinwand wie von Geisterhand.

Der Film entpuppt sich als fröhliche Disney-Pixar-Produktion eines mystischen Feiertags, dem Dia de los Muertos.

"War ja klar." Ein Lachen vertreibt jede Ernsthaftigkeit aus meiner Stimme. "Natürlich schauen wir nicht einfach irgendeinen Film, sondern einen über den Tag der Toten."

Auch Aljan grinst. "Sicher, was dachtest du denn. Aber der Film ist wirklich gut. Es gibt auch bunte und fröhliche Totenwelten."

Davon kann ich mich in den nächsten anderthalb Stunden selbst überzeugen und ich muss Aljan Recht geben. Ein wenig Abwechslung zu den erdrückenden antiken Jenseitsvorstellungen tut mir richtig gut.

Als der letzte Ton des Abspanns verklingt, fühle ich mich mindestens genauso glücklich wie der zwölfjährige Held des Animationsfilms.

Aljan schaut mich abwartend an.

"Ja", sage ich. "Das war ein schöner Film." Entweder habe ich mich inzwischen an Skelette und Totenschädel gewöhnt oder es lag an der kindgerechten Disney-Darstellung, aber nicht einmal die Skelette der verstorbenen Verwandten konnten mich abschrecken.

"Das freut mich." Jetzt liegt ein vages Lächeln auf Aljans Lippen. "Ich würde dir diese Welt gerne live und in Farbe zeigen. Bist du bereit, für einen weiteren kleinen Ausflug?"

Ich nicke und mein neu entfachtes Fangirl-Herz schlägt höher. "Du hast diesen Film umgesetzt?"

Aus Aljans Lächeln wird ein breites Grinsen. "Ich sagte doch bereits, dass moderne Medien mein Spezialgebiet sind."

Einige Minuten später bleibt Aljan vor einer Tür stehen auf der das Abbild einer großen Gitarre prangt und die uns in das Innere eines Mausoleums führt, durch dessen hohe Sprossenfenster ein wenig Mondlicht scheint. Der Raum selbst schimmert in einem bläulich violetten Licht und unzählige goldgelbe Blütenblätter wirbeln durch den Raum wie von Magie zum Tanzen gebracht. Ich fange eines der Blätter auf und wedle es wie eine EIntrittskarte vor mir. Im Prinzip sind sie das auch.

"Komm mit! Es wird noch besser", übergeht Aljan meine kindliche Ausgelassenheit. Hinter einer unscheinbaren Tür im Mausoleum beginnt die gebogene Brücke aus eben jenen goldenen Blütenblättern, die hinüber in die Totenwelt führt. Auch wenn ich den Anblick gerade erst im Film gesehen habe, steht mein Mund vor Staunen offen. Die Brücke erstrahlt in einem hellen Glanz und führt über einen See. Die ruhige Oberfläche des Wassers wirkt friedlich. Ich weiß, dass sich keine Ungeheuer in den dunkelblauen und fliederfarbenen Fluten verbergen, die von unzähligen Lichtern auf der anderen Seite angestrahlt werden, höchstens ein paar harmlose bunt schillernde Seelentiere. Hier ist wirklich alles fröhlich und farbenfroh. Selbst die Verstorbenen, die in unsere Richtung über die Brücke unterwegs sind, stören diesen Eindruck nicht. Sogar sie sind farbenprächtig gekleidet und viele von ihnen tragen Hüte. Manch einer winkt uns freudig zu. Wir sind die einzigen, die in Richtung der Totenwelt unterwegs sind, denn am Dia de los Muertos ist es den Verstorbenen erlaubt, ihre noch lebenden Verwandten zu besuchen.

Kurz vor den Einlass-Kontroll-Häuschen bleibt Aljan stehen und dreht sich zu mir. "Du weißt, dass ich Herr über diese Welt bin und wir hier alles sein können." Im nächsten Moment erblasst seine Gesichtsfarbe und nur noch die Augen und die Nasenöffnung treten dunkel hervor. Die Haut über seinen Händen und Armen zieht sich zurück und gibt die Knochen frei. Er ist ein Skelett, und nur seine Haare und die Kleidung verraten noch, dass es Aljan ist. Ich zucke erschrocken zusammen und er lacht.

"Du kannst das auch. Versuche es." Ich schaue ihn ratlos an. Er wirkt, als gehöre er hierher. Er kennt die Spielregeln. "Was muss ich tun?"

"Du musst es dir nur vorstellen", sagt er.

Und genau das tue ich. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie ich aussehen will.

Und dann spüre ich es. Ein Kribbeln auf der Haut, während sie sich auflöst. Es ist nicht unangenehm oder bedrohlich, sondern fühlt sich irgendwie leicht und befreiend an. Ähnlich wie ich mich beim Aufwachen am Morgen nach der Party gefühlt habe. Losgelöst, unbesorgt, entfesselt.

Mit einer Mischung aus Staunen und Bewunderung betrachte ich meine Handknochen. Besser als jedes Kostüm, ich bin eine echte La Catrina.

"Cool!", triumphiere ich und betaste mein Gesicht. Fingerknochen treffen auf meine entblößten Wangenknochen und streichen über meinen nackten Nasenrücken. "Verrückt!", aber ich halte mich nicht damit auf. "Na dann los." So viele Verrücktheiten, wie ich in letzter Zeit zu Gesicht bekommen habe, härten ab.

Ich fühle mich, wie als gehöre ich hierher, als ich Aljan vorbei an den Einlasskontrollhäuschen folge und vorbei an etwas, das vage an eine riesige turbulente und viel bevölkerte Bahnhofshalle erinnert.

Die verwinkelte Straßen und Gässchen der Totenstadt sind festlich beleuchtet und voller Leben. Die zurückgebliebenen Verstorbenen feiern ihren Festtag und die allgemeine Ausgelassenheit greift bald auf uns über.

"Das ist wirklich ein schönes Fest", stelle ich fest. Wir stehen vor einer grell beleuchteten Bühne auf einem Platz inmitten der Feiernden, die sich nicht von der Tatsache davon abhalten lassen, dass sie eigentlich längst schon verstorben sind.

"Sagte ich doch: Es gibt auch schöne Totenweltvorstellung." Aljan lächelt triumphierend. "Der Tod ist nichts Trauriges, sondern gehört zum Leben. Und dieses Fest soll bewusst machen, dass niemand wirklich tot ist, solange sich noch jemand an ihn erinnert."

"Erinnerungen halten lebendig", seufze ich. "Eigentlich macht ihr hier nichts anderes. Ihr bewahrt uralte Vorstellungen vor dem Vergessenwerden."

Aljan pflichtet mir bei und trotz des ausgelassenen Trubels um uns herum erfasst mich eine tiefe Traurigkeit und die tragische Figur des Filmes drängt sich in mein Gedächtnis zurück.

"Aber es ist auch gleichzeitig traurig." Nur mit Mühe kann ich Tränen zurückhalten. "All die Toten, die schon im Leben keine Familie hatten. All die, die vergessen wurden, weil es niemanden gibt, der sich an sie erinnern kann. Ihr letzter Tod ist endgültig und sie scheiden auch aus dieser Welt hier." Ich versuche mir unbemerkt mit dem Ärmel über die Augen zu fahren, und erinnere mich viel zu spät daran, dass meine Augenhöhlen aktuell leer sind und nur als schwarze Löcher unter meinen Haaren hervorstarren. Trotz meines aktuellen Zustands fühle ich mich immer noch lebendig, habe immer noch ein Herz voller Gefühle.

"Du sagst es", seufzt Aljan und wirkt bedrückt. "Nichts ist wichtiger als die Familie. Komm, lass uns zurück gehen, vielleicht ist mein Vater schon wieder da."

Brennende Feuer - Dunkle SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt