46) Unter dem Weltenbaum

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Auf Aljans Lippen liegt ein Lächeln und er wirkt fast euphorisch, als er mich weiterzieht. Die goldene Brücke macht eine kaum merkliche Steigung, von der Aljan offenbar wirklich nichts mitbekommt. Er ist wie in einer anderen Welt. Geistig nicht anwesend.

"Was freut dich so?", frage ich schließlich, um ihn aus seiner Entrückung zu reißen und weil ich den Grund für seine Verzückung nicht im Geringsten nachvollziehen kann.

"Balders Tod. Jetzt macht alles Sinn."

"Gar nichts macht Sinn", entgegne ich mit steigendem Frustrationslevel. "Was hat Wodan damit gemeint?"

"Balder war ein Sohn Odins, der identisch mit Wodan oder auch Wodin ist und Frigga. Er bekam furchtbare Alpträume, in denen er seinen eigenen Tod sah. Immer wieder und wieder. Es muss schrecklich gewesen sein." Natürlich versetze ich Aljan mit meiner Frage in Dozenten-Mode, aber andererseits klingt die Geschichte nach Spannung und Drama.

"Erzähl weiter!", fordere ich auf, weil es sich anhört, als käme der gute Teil erst noch.

"Frigga und Wodan haben selbstverständlich alle Hebel in Bewegung gesetzt, um zu verhindern, dass die Träume ihres Sohnes wahr werden." Mein Gefühl enttäuscht mich nicht. Ich wittere ein tragisches Götterkindschicksal. Unter uns breitet sich endlos die weiße Schneedecke aus und Aljan erstrahlt in einem goldenen Licht, als er weiterspricht.

"Frigga hat jedem Tier und jeder Pflanze einen Eid abgenommen, Balder nichts anzutun."

Jetzt hänge ich an Aljans Lippen und habe die leichte Steigung des goldenen Weges völlig vergessen.

"Mit einer Ausnahme", erzählt er weiter. "Die Mispel wurde vergessen, weil sie so unschuldig aussieht." Ich ahne Schlimmes und fühle mich dezent an das Märchen von Dornröschen erinnert, wo das Königspaar nach einer Prophezeiung sämtliche Spindeln und Spinnräder vernichten lässt - und den Rest kennen wir ja.

"Es kommt wie es kommen muss. Alle Pflanzen und Tiere machen einen Bogen um Balder und lassen ihn in Frieden. Bis Loki den blinden Höd dazu anstiftet, Dinge auf Balder zu werfen und ihm einen angespitzten Mispelzweig reicht."

Ich habe vor Spannung die Luft angehalten.

"Balder wird von einem Mispelpfeil tödlich getroffen."

Das Ende überrascht mich wenig, lässt mich aber ratlos zurück. "Und das meinte Wodan? Balders Träume bedeuten, dass Balder stirbt. Was ist so gut daran? Ich verstehe es nicht."

Aljan schüttelt den Kopf. "Nein, das war noch lange nicht alles. Das war erst der Anfang. Baldurs Tod führte zu gewaltigen Tumulten in der Götterwelt und gipfelte im Ragnarök, dem Weltuntergang, wo die Götter gegen die Riesen kämpften und die Erde im Meer versank und die Welt zurückkehrte zu vollständiger Finsternis im Chaos. Erinnert dich das an etwas?"

Das tut es in der Tat. "Alles wiederholt sich?", sage ich fragend. "Du meinst, dass ist das, was hier gerade passiert?"

Genau in diesem Augenblick erreichen wir eine Biegung und erhalten einen wunderbaren Ausblick auf einen gewaltigen schwarzen Riss in der Schneedecke weit unter uns. Es wirkt wie ein eitriges Geschwür inmitten der friedlich weißen Oberfläche.

"Warum sonst hätte uns Wodan nach der Bedeutung von Balders Träumen gefragt? Er kennt die Geschichte genau. Schließlich war das noch immer nicht alles."

"War es immer noch nicht?", frage ich. "Was ist noch passiert?"

"Nicht nur Frigga hat versucht, Balders Schicksal zu verhindern, sondern auch Odin. Er begibt sich als Wanderer Wegtam getarnt, hinab in die unterste aller Welten, wo er eine uralte, tote Seherin wieder zum Leben erweckt. Er zwingt sie, ihm den Mörder seines Sohnes zu nennen, was diese auch tut. Aber sie verschweigt ihm, dass in Wahrheit Loki es war, der Hög den Mispelpfeil gegeben und ihn zum Werfen angestiftet hat. Sie verschweigt Odin auch, dass ein anderer seiner Söhne Balders Tod rächen wird. Ein Sohn, der erst noch geboren werden muss. Aber das Schicksal erfüllt sich auch so. Odin zeugt in Wut und List seinen Sohn Vali, der am gleichen Tag noch auszieht, um Rache an Hög zu üben."

Ich bin so in seine Erzählung versunken, dass ich erst jetzt bemerke, dass wir nicht mehr alleine sind, als eine fremde Stimme antwortet.

"Erst am Ende erkennt die Seherin, wen sie in Wahrheit vor sich hat. So ist es mit der Wahrheit, wir erkennen sie meistens erst viel zu spät."

Der goldene Weg macht eine letzte Biegung und mündet unter den Zweigen einer riesigen Esche, deren turmdicker Stamm sich neben dem Weg in die Höhe windet. Mitten auf dem Weg, direkt unter den Ästen, kniet eine Frau. Auch auf ihren Knien sitzend, ragt sie noch weit über mich hinaus. Ein riesenhafter Wolfshund, erhebt sich aus seiner liegenden Position hinter ihr, richtet sich auf und knurrt uns drohend über ihre Schultern hinweg an. Gegen dieses Kaliber wirkt Friggas Exemplar wie ein Schoßhund.

Ich zucke zusammen.

Die Riesin legt ihm eine Hand um den Hals und flüstert beruhigende Worte auf ihn ein. Schließlich mustert der Wolfshund uns still aus tiefroten Augen. Sie streicht ihm weiterhin durch sein pechschwarzes Fell, als sie sich zu ihrer vollen Größe erhebt.

"Da seid Ihr endlich. Meine Herrin erwartet Euch."


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Waren die Beschreibungen okay? Konnte man sich das mit der Brücke vorstellen oder muss ich da nochmal ran? (Meistens hatte ich Bilder als Vorlagen, aber hierfür habe ich leider keine gefunden)

Dialoge okay oder klingt Aljan zu sehr nach Dozent?

Zu viel Information, gerade richtig oder zu wenig? Wie fandet ihr Balders Geschichte?

Fällt mir manchmal wirklich schwer, das einzuschätzen. Danke euch :)

Ach und ich bin auch nicht sicher, ob es jetzt eine Mistel oder eine Mispel war. Bei der Recherche habe ich beides gefunden. Sogar einen Mistelstrauch, aber da fragt mich die Suchmaschine sofort, ob ich "Mispelstrauch" meine. Ich weiß also nicht, wem ich die Lorbeeren schenken soll und ob ich nicht versehentlich der Mistel Unrecht tue. Dann tuts mir leid.

Brennende Feuer - Dunkle SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt