33) Die Göttin vieler Dinge

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Der Sandsteingang windet sich durch das Gestein, bis er sich irgendwann öffnet. Wir stehen am Anfang einer Brücke. Der unebene Untergrund aus Felsen geht in versetzt verlegte Fliesenplatten aus demselben hellen Gestein über. Das hüfthohe Geländer zu beiden Seiten ist mit einfachen Ornamenten verziert und endlich sieht mein Auge ein wenig Grün. Die Brücke ist nicht hoch. Sie führt über eine Art Gartenanlage aus Büschen und Grünflächen.

Das eigentlich Beeindruckende erwartet uns aber am Ende der Brücke. Fünf Stufen führen hinauf zu einer Art Tempel. Auf schmucken Säulen ruht ein einfaches Rondell. Links und rechts des offenen Tempels ragen mächtige Säulen gleicher Bauart hoch hinauf. Obenauf thronen die steinernen Bildnisse von Helden oder Göttern und blicken auf uns hinunter. Ich fühle mich in der Tat beobachtet.

"Wohin müssen wir?", frage ich, obwohl ich die Antwort bereits vermuten kann. Ich schaue an den imposanten Säulen vorbei, zwischen denen auf jeder Seite ein ausgetretener Pfad entlangführt. Vermutlich in die Gärten, aber ich ahne, dass wir den Stufen hinauf in das Tempelrondell folgen und durch den Ausgang auf der anderen Seite hinaus gehen müssen.

Aljan bestätigt meine Vermutung. Bereits vor dem Betreten der Stufen kann ich den Baum erkennen, der seine Äste dahinter in die Höhe streckt. Das, was ich davon sehen kann, wirkt bereits aus der Ferne alt und ehrwürdig.

Und als ich auf der runden Ebene des Tempels stehe, kann ich meine Augen nicht von dem Baum abwenden. Der Stamm ist so dick, dass Aljan und ich ihn nicht mit den Armen umfassen könnten. Und er ist nicht nur im unteren Bereich so breit, sondern auch noch in guten zehn Metern Höhe, wo der Stamm sich zu mannsdicken Ästen und Blattwerk verzweigt.

"Der Baum muss ganz schön alt sein", stelle ich fest.

"Tausende von Jahren", erhalte ich eine Antwort, aber sie kommt nicht von Aljan. Ich zucke zusammen und drehe mich um. Vor einer der Säulen zu meiner linken Seite steht eine Frau. Sie hat sich entweder gerade eben erst manifestiert oder was ich für wahrscheinlicher halte, von der Säule abgestoßen, an die sie sich gelehnt hat. Ihr schlichtes, schwarzes Gewand endet knapp über ihren nackten Füßen und trägt dazu bei, dass sie sich kaum vom Hintergrund in dem spärlich beleuchteten Tempel unterscheidet.

Es ist Aljan, der sich zuerst von dem Schreck erholt.

"Magna Mater, dreifache Göttin der Übergänge und Verwandlung, jetzt wird mir einiges klar."

Die so angesprochene Göttin lächelt Aljan milde an. Ihre langen dunklen Haare umfließen ihr Gesicht. Es ist unauffällig, so wie alles an ihr schlicht wirkt. Kein Schmuck oder Tand lenkt von ihrer Erscheinung ab. Ich spüre, dass sie erhaben und mächtig sein muss, aber keine Bedrohung von ihr ausgeht.

"Ich habe Tenebris erwartet. Sag, was treibt dein Vater? Er war schon lange nicht mehr hier."

"Es geht ihm nicht gut", antwortet Aljan. "Du würdest ihn kaum mehr wiedererkennen. Er ist alt geworden, alt und gebrechlich."

"Ich herrsche über die Phasen des Lebens. Geburt, Leben und Tod. Du weißt, wie Hesiod mich bezeichnet hat. Alter und Krankheit sind kein Grund, mich nicht um meinen Segen und meine Pflege zu bitten. Das haben andere, viel sterblichere Wesen ebenfalls zuwege gebracht."

Aljan seufzt und hebt die Hände. "Du kennst meinen Vater. Er ist stur. Er würde niemals diese Schwäche zeigen, wenn er nicht gezwungen ist. Und es gibt einen weiteren Grund, weshalb er seine Schöpfungen nicht mehr betritt."

"Deswegen bin ich hier. Ich habe ihm etwas auszurichten."

Aljan lässt die Hände wieder sinken. "Dann sprich. Ich werde ihm sagen, was du zu sagen hast."

"Ich möchte ihm ausrichten, er möge doch die Schriftrolle, die er sich unerlaubterweise ausgeborgt hat, wieder zurückbringen und zwar unbeschädigt und am besten in dem Zustand, in dem er sie sich angeeignet hat. Und wenn er das nächste Mal etwas begehrt, soll er doch gütigst danach fragen. Jemand ist ziemlich schlecht auf ihn zu sprechen."

Aljans Adamsapfel hüpft auf und ab. "Ich werde es meinem Vater mitteilen und ich bitte um Verzeihung."

Sie schüttelt den Kopf. "Du musst nicht bei mir um Verzeihung bitten und du bist nicht derjenige, der es tun sollte."

"Ich weiß", murmelt Aljan und ich sehe ihm genau an, dass er dennoch ein schlechtes Gewissen hat. Ich ahne, was sein Vater gestohlen hat und ich ahne auch, dass Aljan die Art und Weise seines Vorgehens nicht gutheißt.

"Das meinte ich aber gar nicht", erklärt er. "Der Grund, weshalb mein Vater nicht mehr seine Schöpfungen betritt, ist nicht nur sein Zustand, sondern auch der Zustand seiner Schöpfungen. Er erträgt es nicht, den Verfall und den Untergang zu sehen, dem sie anheimfallen."

Ihr Gesichtsausdruck verändert sich. Auch Aljan muss es gesehen haben.

"Weißt du etwas darüber?", fragt er.

Wieder schüttelt sie den Kopf. "Ich bin zwar die Göttin vieler Dinge. Der Übergänge und der Verwandlung. Ich herrsche über das Leben und den Tod, über Erde, Himmel und Meer. Ich kann den Menschen jeden Wunsch erfüllen oder verweigern, aber damit habe ich nichts zu tun."

"Aber du weißt etwas darüber?", hakt Aljan nach.

Sie lacht. "Was ich damit sagen wollte, war nein." Das Lächeln verschwindet. "Wer ist das Mädchen?" Ihr Blick löst sich von Aljan und sie mustert mich. "Kein übernatürliches Wesen, das kann ich erkennen. Ein Erdenkind?"

Ich nicke, aber es ist Aljan, der antwortet.

"Das ist Dalerana Jordbarn. Ein Erdenmädchen in der Tat." Ich räuspere mich, aber Aljan geht über meinen Einwand hinweg, ehe ich ihn äußern kann.

"Am besten soll mein Vater erklären, wer sie ist und vor allem, weshalb sie hier ist, wenn er das Siegel zurückgibt."

Die Göttin wendet sich mir zu. "Schön, dich kennenzulernen, Dalerana. Ich bin Hekate, die dreifache Göttin der Zauberkunst, der Totenbeschwörung, des Spuks und der Wegkreuzungen und vielerlei Dinge mehr. Wie gefällt es dir in unserem Reich?"

"Sehr erfreut", entgegene ich. "Hier gefällt es mir ausgesprochen gut." Ich halte für einen Augenblick inne und lasse meinen Blick über das Grün in der Umgebung und den Baum gleiten. Sie ist also nicht Persephone, die Namensgeberin dieses Hains. Aber etwas, das sie gesagt hat, schwingt besonders deutlich durch meinen Kopf.

"Du kannst den Menschen jeden Wunsch erfüllen oder verweigern?", frage ich. Sie nickt und lacht. "So ist es. Hast du einen Wunsch, den du äußern möchtest? Komm mit!"

Aljan fasst nach meiner Schulter, ehe ich ihr folgen kann.

"Moment, also waren die Opfergaben für dich? Und die Empusa am anderen Ufer des Styx? Du hast sie geschickt?"

Sie nickt und lächelt milde. "Wie ich sagte, ich warte schon lange auf ein Gespräch."

Brennende Feuer - Dunkle SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt