Das Zimmer würde vielleicht keine fünf Sterne erhalten, aber es ist weitaus weniger schlimm, als ich es nach meinem ersten Eindruck der Unterwelt erwartet hätte.
Ein weiches Himmelbett nimmt fast die gesamte Wandseite ein, nur für zwei kleine Beistelltischen zu jeder Seite findet sich noch ein Plätzchen. Die Schubfächer sind leer. Neben der Tür steht ein Sekretär mit einer Arbeitsplatte aus edel glänzendem Holz. Die Schubladen sind mit verschnörkelten Griffen verziert, die sich bei genauerer Betrachtung als Fratzenköpfe herausstellen. Lediglich einen leeren Schreibblock und einen schwarzen Tintenschreiber finde ich in der obersten. Ein Tablett mit zwei Gläsern und einer gefüllten Karaffe steht bereit. Ich schnuppere an der farblosen Flüssigkeit, bei der es sich vermutlich um Wasser handelt. Ich bin nicht durstig und ich wage es nicht, davon zu kosten. Schlechte Erfahrungen mit Drinks auf einer Party sind mir noch zu gut in Erinnerung.
Der Raum hat kein Fenster, wozu auch, wenn man sich irgendwo tief im Nirgendwo befindet. Auf der linksseitig gelegenen Wand steht ein großer Kleiderschrank in passender Holzvertäfelung zur übrigen Einrichtung. An der rechten Wand stehen zwei Polstersessel um ein niedriges Tischchen. Jemand hat eine Schale Konfekt darauf gestellt, aber auch darauf verzichte ich im Moment lieber. An der Wand hängt ein großer Spiegel, ähnlich dem, durch den ich hier hinab gestiegen bin. Alles in allem ein wohnliches Zimmer ohne Tand. Ich hatte schon schlechtere Absteigen in meinem Leben. Trotzdem weiß ich nicht, was ich hier soll. Wenn es ein Traum ist, befinde ich mich gerade in einem Leerlauf. Zeit zum Durchatmen, zum Ankommen - die Ruhe vor dem Sturm?
Ich habe kein Gepäck, das ich ausräumen sollte. Keinen stundenlangen Flug hinter mir. Eigentlich fühle ich mich frisch und ausgeruht. Plötzlich fällt mir auf, dass etwas fehlt. Es gibt kein Badezimmer.
Ich greife nach der Tür zum Gang. Für einen Moment erwarte ich, eingesperrt zu sein. Aber sie öffnet sich. Etwas anderes fällt mir ein. Aljan hat mir keinen Schlüssel gegeben. Wie komme ich hier rein und raus, wenn ich jetzt meine Kammer verlasse? Er hat gesagt, ich kann ihn jederzeit rufen, wenn etwas ist. Aber fürs Erste würde ich mich doch gerne allein und auf eigene Faust ein wenig umsehen. Bevor ich die Tür ins Schloss ziehe, untersuche ich die Verriegelung. Wie es scheint gibt es keine. Versuchsweise schließe ich die Tür von außen und öffne sie wieder. Sie lässt sich problemlos unter meinen Händen entriegeln. Automatische Zugangserkennung. Ich schmunzle und wende mich dem langen Gang zu.
Dunkle Granitplatten führen weit zu beiden Seiten, an der Wand verströmen die mir inzwischen bekannten Fackeln ein diffuses Zwielicht. Dieses Mal in einem beruhigendem Dunkelblau. Ich entscheide mich für die entgegen gesetzte Richtung, aus der ich mich Aljan gekommen bin, wenn ich mich nicht irre.
Nach ein paar Schritten fallen mir die Gemälde auf und inzwischen bin ich mir sicher, dass ich die Richtung eingeschlagen habe, die ich noch nicht kenne. Ich meine, diese Bilder wären mir aufgefallen. Es sind allesamt schwere Ölgemälde in glänzenden, verschnörkelten Goldrahmen. Die Farben vorwiegend dunkel. Ich bleibe vor dem nähsten stehen und bestaune die Darstellung. Eine Frau mit blauem Gewand sitzt auf einem goldenen Wagen wie auf einem Thron. Zwei Pfauen und eine löwenähnliche, geflügelte Kreatur lungern zu ihren Füßen. Die Frau hält ein Zepter, den anderen Arm streckt sie zum Rand hin aus, von wo sich eine seltsame Gestalt erhebt. Im Hintergrund tummeln sich einige solcher Gestalten, allesamt nackt, manche purzeln durcheinander. Je länger ich schaue, um so mehr Details fallen mir ins Auge. Dämonische Wesen, nackte und bekleidete Menschen, die flüchten oder wehklagend ihre Hände strecken. Im Hintergrund ein Fluss inmitten einer Schlucht aus Felsen, die Umrisse von Gebäuden. Ich schaudere. Ganz eindeutig eine apokalyptische Darstellung. Unter Willensanstrengung reiße ich meinen Blick los.
Aber auch das nächste Bild wirkt nicht einladender. Feuer und Rauch. Davor unzählige nackte oder leicht bekleidete Gestalten in verzerrten Posen. Dazwischen gehörnte und geflügelte Wesen. Skelette schmücken eine Ecke des Gemäldes. Zwei Personen fallen besonders auf. Ein Paar mit hellen Gewändern in blau und grün, eine Frau mit entblößten Brüsten und ein Mann, mit einem gefiederten Helm, der sie führt. Die Wesen und Gestalten scheinen sie in Ruhe zu lassen. Trotzdem strahlt die Szene nichts Beruhigendes aus. Als ich weiterlaufe, stelle ich fest, dass dies keines der dargestellten Gemälde tut. Die Farben überwiegend düster, wie die gezeigten Szenen von Untergang und Tod. Wenn ich der Sammlung einen Titel geben müsste, ich müsste nicht lange überlegen - Bilder aus der Hölle.
Selbst die abgebildeten Flammen und Feuersbrünste lassen mich schaudernd zurück. Zwischen zwei Fackeln öffnet sich ein Durchgang. Links und rechts flattert ein tiefroter Brokatvorhang in einem nicht spürbaren Luftzug. Der gewölbte Durchgang führt nach wenigen Schritten in einen großen Saal. Imposante Deckenleuchten hängen von einem ausladenden Kuppeldach und verströmen einen tiefroten Schein. Alles ist in ein unwirkliches Licht getaucht. Erst mit Verzögerung registriere ich die Schreibpulte und Regalreihen zu meinen Seiten. Sie werden von der riesigen Kuppel fast in den Hintergrund gedrängt, aber ich sehe kein Ende der mannshohen Regale. Auf jedem von ihnen tummeln sich Bücher. Manche wirken modern, andere alt und antik. Schwere Folianten, die ich vorsichtig berühre, fast ängstlich, als ob sie unter meinen Fingern zu Staub verfallen würden. Auf den Buchrücken glänzen goldene Lettern. Auf den Schreibpulten liegen handbeschriebene, in Leder gebundene Ausgaben uralter Abschriften. Kunstvoll gefertigte Zeichnungen und Kupferschnitte springen mich an. Die Motive eine Variation dessen, was ich bereits gesehen habe. Die Gänge führen weit in die Tiefe und Dunkelheit versperrt mir den Blick auf ihr Ende. Wenn es denn eines gibt. Ein Labyrinth aus Büchern und Schriften. Ich weiß gar nicht, in welche Richtung ich mich zuerst wenden soll.
Willkürlich wähle ich die erstbeste, als jemand sich hinter mir räuspert. Ich halte inne und drehe mich um. Mein Blick huscht suchend über die Schreibpulte und Regalreihen. Erst als sich die Gestalt langsam aus einem Polstersessel erhebt, erkenne ich das weißhaarige Haupt von Tenebris.
"Willkommen in meiner Bibliothek." Er lacht und macht eine weit ausladende Geste.
"Oh, Entschuldigung", murmele ich. "Ich wollte nicht stören, aber es ist beeindruckend."
"Keine Sorge, du störst nicht. Es ist wirklich beeindruckend, was sich die Menschen alles erdacht haben und dank mir, ist jede ihrer Vorstellung wahr geworden." Er lacht, aber es klingt gleichzeitig schwermütig.
"Du hast das alles gelesen?", frage ich ungläubig.
Er macht ein paar humpelnde Schritte auf mich zu. "Kind", sagt er. "Ich hatte ein langes Leben seit Anbeginn der Zeit. Es ist meine Aufgabe, mich auf dem Laufenden zu halten, was die Menschen im Flug der Jahrhunderte über die Unterwelt denken."
"Und es umzusetzen?"
Er nickt. "Einmal damit begonnen, konnte ich nicht wieder aufhören. Hast du die Gemälde gesehen? Sind es nicht faszinierende Szenarien und noch beeindruckendere Geschichten? Wie könnte man so etwas unbeachtet lassen?" Er greift mit langen, dürren Fingern nach einem schmalen Bändchen. "Den lieb ich, der Unmögliches begehrt. Faust II."
Ich schüttle den Kopf. "Leider nie gelesen."
"Macht nichts, mein Kind. Selbst ich entdecke nach Jahrhunderten noch neue Aspekte und mir kommen neue Ideen, wie ich es umsetzen und interpretieren könnte. Mach dir nichts daraus, du hast auch nur dein überschaubares Menschenleben. Aber schau dich nur um oder frag, wenn du etwas wissen möchtest. Carpe diem, carpe noctem." Er blättert in den dünnen Seiten, fährt mit den Fingern über die Zeilen, leise Worte murmelnd und überlässt mich wieder mir selbst. Ich will ihn nicht länger stören und wende mich den langen Regalreihen zu, die mich immer weiter, immer tiefer in die dunkelsten Abgründe menschlicher Phantasie führen.
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Brennende Feuer - Dunkle Schatten
FantasyAlles beginnt mit einer außerkörperlichen Erfahrung für Dalerana. Dann steigt die junge Frau hinab in das Reich des Todes, wo nichts mehr ist, wie es sein sollte. Eine Katastrophe droht, die Arbeit von Jahrtausenden in endlose Abgründe zu reißen. Au...