32) An der Weggabelung

565 51 19
                                    


Ein enger Gang verschluckt uns mit seiner Dunkelheit. Die Steinwände sind rau und lassen gerade so zwei erwachsene Menschen nebeneinander passieren. Eine Menschenmasse darf hier nicht gleichzeitig anrücken.

"Was passiert eigentlich bei einem Massensterben?", lasse ich meinen Gedanken freien Lauf.

Es hilft, dass ich mich auf Aljans starke Schultern stütze und er einen Arm um meinen Rücken gelegt hat. So fühle ich mich erstens beschützt und zweitens erscheint der Gang nicht allzu beengend.

Natürlich kann er meinem Gedankengang nicht folgen. "Was meinst du?"

Mir fällt ein, dass Charons Floß kein Omnibus ist und das Problem vermutlich schon am gegenüberliegenden Ufer auftreten beziehungsweise gelöst werden würde. "Ach nichts", winke ich ab. "Ich war nur in Gedanken."

"Massensterben?", hakt Aljan nach. "Worüber hast du nachgedacht?"

"Nicht so wichtig", beschwichtige ich erneut. "Meine Phantasie geht hier nur irgendwie mit mir durch. Muss der Schreck sein."

Das scheint meinem Begleiter als Antwort auszureichen. Inzwischen haben sich meine Augen einigermaßen an die Lichtverhältnisse gewöhnt und ich kann Umrisse erkennen. Es ist nicht halb so dunkel, wie ich es in einem Gang wie diesem erwartet hätte. Wenigstens kann hier nicht von allen Seiten jemand oder etwas auf uns einfallen. Höchstens die Empusa entschließt sich doch noch dazu, uns zu verfolgen oder jemand lauert uns auf. Trotzdem fühle ich mich in dem engen, in eine Richtung führenden Tunnel relativ sicher.

Leider hält mein Gefühl der Sicherheit nicht lange, sondern nur, bis sich der Weg auf einmal in drei Abzweigungen aufgabelt.

Aljan steuert zielsicher auf den Mittleren zu, aber dann stockt er so plötzlich, so dass ich einen Schritt weiterhumple, ehe ich ebenfalls anhalten kann. Dann sehe ich, was ihn zum Stehenbleiben veranlasst haben muss.

Vor dem linken Gang steht ein Lämmchen und stößt herzzerreißende Jammerlaute aus. Vor dem rechten Gang sitzt ein struppiges Hündchen, das nun aufspringt und winselnd mit dem Schwanz wedelt. Vor dem mittleren Gang stehen eine Reihe Schälchen, Krüge und Teller. Einige davon sind umgeworfen, aus einem Krug ergießt sich eine dunkle Flüssigkeit. Ein weiterer Krug ist in zwei Teile zerbrochen und etwas, das von Konsistenz und Farbe an Milch erinnert, umfließt die Übrigbleibsel. Auf den Tellern liegen Äpfel, Datteln und Brotfladen. Beziehungsweise das, was davon noch übrig ist. Von letzterem sind es nur noch ein paar zerfledderte Reste und Krümel.

Nachdem ich Schäfchen, Hund und die Überreste der Speisen begutachtet habe, schaue ich Aljan an. "Warum bleiben wir stehen?" Mir erscheint nichts an diesen Dingen bedrohlich. Höchstens ungewöhnlich.

"Opfergaben", erklärt er. "Seltsam. Das habe ich hier noch nie gesehen. Alles scheint sich zu verselbstständigen. Ich weiß nicht, ob mir das gefallen soll. Was Vater wohl dazu sagen wird?"

Ich übergehe den Teil seiner Antwort, der mich zu sehr verstören könnte und den, den ich ihm nicht beantworten kann. "Wo führen die Wege hin?"

Lieber will ich mich darauf konzentrieren, vorwärts zu kommen. Wohin auch immer uns vorwärts führen wird. Langsam habe ich auch genug von der griechischen Unterwelt gesehen und sehne mich nach dem mir fast schon vertrauten Flur.

Und auch Aljan ist dankbar für eine Aufgabe, die ihm liegt und die ihn ablenkt. Fragen beantworten, sein Fachgebiet, und Wissen an die Frau bringen, neuerdings sein Spezialgebiet.

Er zeigt auf die Abzweigung hinter dem Lämmchen. "Dort geht es zum Ende der Welt. Der Weg endet am Orkeanos, einem gewaltigen Strom, der das Elysion umfließt und die Welt begrenzt."

"Interessant", nehme ich zur Kenntnis. "Da wollen wir also nicht hin."

Aljan schüttelt den Kopf und zeigt auf den rechten Gang. "Dieser Weg führt zu Perspehones Hain. Ein schöner Ort, mit weitläufigen Tempelanlagen und Gärten mit Pappeln und Zedern. Dort wächst der Baum der Verlassenen."

Das klingt eigentlich ziemlich friedlich und sehenswert. Trotzdem frage ich nach. Inzwischen habe ich gelernt, dass hier nichts ist wie es scheint. "Baum der Verlassenen?"

"Ein Granatapfelbaum. Dort müssen die Toten all ihre Untaten hinter sich lassen. Ich würde ihn dir gerne zeigen, aber nicht jetzt. Unser Weg führt dort entlang." Er zieht mich weiter, vorbei an dem blöckenden Lamm und dem winselnden Hund, der hoffnungsvoll mit dem Schwanz wedelt. Ich mache einen großen Schritt über die zerbrochenen Tonkrüge. Der Geruch von vergorenem Wein dringt mir in die Nase.

"Dahinter liegt am Kap Tenaro das Tor zur Unterwelt. Dort stürzen die schwarzen Fluten des Flammenflusses und des Kokytos, dem Fluss des Wehklagens, in die Tiefe. Dort sollten wir hin."

Eigentlich ist mein Bedarf an Flüssen gedeckt. "Das klingt düster und deprimierend. Können wir nicht lieber zu dem Baum?" Die Worte klingen mehr nach einem Jammern, als ich es beabsichtigt habe. Ich erwarte nicht, dass Aljan auf meinen Wunsch eingeht. Schließlich haben wir eine Mission und sind aus einem bestimmten Zweck hier. Aber zu meiner Überraschung schwenkt er um und steuert nach rechts. "Na gut", verkündet er und ich höre nur ein leichtes Seufzen. "Dann zeige ich dir eben Persephones Hain."

Wir schwenken in den Gang auf der rechten Seite ein. Er ist von hellerem Sandstein und weniger eng als der vorherige und ich bereue meine Entscheidung mit keinem Augenblick. Aber ein Teil von mir weiß aus Erfahrung, dass sich dies noch ändern kann und zwar sehr schnell.

Brennende Feuer - Dunkle SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt