Aber Tenebris bleibt verschwunden. Aljans Ruf verhallt im Leeren. Ohne auf mich zu achten, stürzt er vorwärts und ich haste hinterher.
Die Schlangen, die sich auf dem Boden winden, sind mir völlig egal - ich fege über sie hinweg wie ein Orkan und in Lichtgeschwindigkeit stehen wir wieder auf dem Flur und sind wieder wir selbst, in unserer körperlichen Form und unserer ursprünglichen Kleidung.
Ich fühle mich als wäre ich schwerelos, aber gleichzeitig wiegen die Knochen in meinem Körper tonnenschwer. Das Gewicht zieht mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Da ist nach wie vor kein Nebel auf dem Gang zu sehen. Nichts, nicht einmal ein Hauch davon.
"Komm mit", ruft Aljan. Er klingt atemlos und rauscht davon, ohne darauf zu achten, ob ich mitkomme.
Mittlerweile kenne ich mich gut genug aus, um zu erkennen, in welche Richtung wir laufen. Den Durchgang zur Bibliothek lassen wir liegen. Die Bilder und Gemälde fliegen unbeachtet an uns vorüber. Keines so düster, wie das, was uns in Tenebris Gemächern erwarten wird. Der Tod? Das Ende? Oder ein Anfang?
Oder war es nur eine Finte? Eine Illusion? Einbildung? Ein Trick unseres Unterbewusstseins?
All diese Gedanken wirbeln durch meinen Kopf, aber keinem gelingt es, sich genügend zu manifestieren, um von mir in Worte gepackt zu werden. Und wozu auch? Aljan hechtet atemlos durch die Gänge und ich hechle hinterher. Reden ist nutzlos, schweigen klingt lauter als die Hölle der Gedanken in meinem Kopf.
Weit kann es nicht mehr sein. Wir biegen um eine Ecke und ich stoße hart in Aljans Rücken. Er ist stehengeblieben. Ich reibe meine Schulter. Da sehe ich auch schon den Grund, weshalb mein Begleiter so unvermittelt angehalten hat.
Erit! Auch er scheint gerannt zu sein, aber in unsere Richtung. Er steht viel zu knapp vor Aljan und reibt sich die Stirn.
"Da bist du ja endlich!" Er klingt erleichtert. "Komm mit, wir müssen zu Sophia. Sie verlangt nach dir."
Aljan scheint die Worte nicht zu registrieren oder nicht in der Lage, sie zu verarbeiten. "Was ist mit Vater?"
"Beruhige dich", beschwichtigt Erit. "Sophia wird uns helfen. Du musst zu ihr." Er presst jedes Wort betont hervor und dringt endlich zu seinem Bruder durch.
Aljan wendet sich zu mir. "Worauf warten wir dann noch? Komm mit."
Er beginnt bereits, in die entgegengesetzte Richtung zu rennen. Erit auf seinen Fersen, aber betont langsamer und ich hinterher, als sich eine weitere Tür öffnet.
Erit greift nach meinem Ellenbogen. Ich bleibe stehen und Anden tritt aus der Tür heraus. Seine Haare sind zersaust, er sieht erschöpft aus.
"Dalerana", begrüßt er mich mit einem Nicken. "Vater will dich sehen."
"Aber-", fällt Erit ihm ins Wort.
Anden unterbricht ihn mit einer Handbewegung. "Ich weiß. Geht ihr beide zu Sophia. Dalerana soll mir mit Vater helfen."
"In Ordnung", erwidert Aljan und ist bereits am Ende des Ganges verschwunden. Erit folgt ihm in gemächlicherem Tempo hinterher.
Ich atme ein paar Mal tief aus und ein.
"Er lebt also?", frage ich und folge Anden in unsere ursprüngliche Richtung. Dieses Mal so viel langsamer als noch vor wenigen Augenblicken. Mein Herzschlag beruhigt sich und einer Unterhaltung steht nichts mehr im Wege.
"Es ist alles gut", beruhigt mich Anden. Aber irgendetwas an seinen Worten passt nicht zu seinem Gesichtsausdruck und erst recht nicht zu seinem abgekämpften Erscheinungsbild und dem Schweißfilm auf seiner Stirn. Ich will ihm glauben, aber ich kann es nicht.
"Ist dein Vater aufgewacht?"
Anden nickt. Langsam. Mehrmals. "Sophia wusste Rat. Er verlangt nach dir."
Warum hat er uns das nicht am Leichenstrand gesagt? Also doch nur eine Illusion? Aber Erleichterung will immer noch nicht eintreten. Meine Gedanken wirbeln in hundert Richtungen gleichzeitig, sodass ich keinen davon lange genug festhalten kann.
Es scheint jedenfalls nicht mehr eilig zu sein, denn Anden schlendert beinahe gemächlich an den Gemälden und Türen vorüber. Aber das Tempo wirkt nicht beruhigend auf mich ein, im Gegenteil.
Ich beobachte Anden, der einige Schritte vor mir geht. Er hat dasselbe scharfe Profil wie Aljan und alle seine Brüder. Eine gerade Nase, dunkle Haare, die ihm ein wenig in die Stirn fallen. Volle Lippen und eine beachtliche Statur, groß, gut trainiert. Seine Schultern und Bizeps zeichnen sich unter seinem grauen Shirt ab. Trotzdem finde ich ihn nicht attraktiv. Nicht im Vergleich zu Aljan.
"Was ist in der Zwischenzeit passiert?", frage ich, weil ich die Gedanken aus meinem Kopf verscheuchen will. Anden ist nicht Aljan, aber er soll mich mit Worten ablenken und beschäftigen. So wie es Aljan zu tun pflegt. Aber Anden zuckt nur mit den Schultern. "Das erfährst du gleich."
Ich kann meinen Blick nicht von ihm losreißen. Obwohl es ein Kribbeln über meine Haut wandern lässt. Kein Angenehmes. Eher eines, das sich anfühlt, wie der Vorbote eines drohenden Unglücks. Aber ich kann den Grund nicht greifen. Mit Tenebris ist alles in Ordnung. Ich vertraue Sophia und dass sie in der Lage ist, zu helfen. Wer, wenn nicht sie?
"Gut, dass ihr Sophia um Hilfe gebeten habt. Wer ist denn auf diese Idee gekommen?"
"Erit", sagt Anden kurz und der Name hallt als Echo durch den Gang. Eindringlich und bedrohlich. Die Antwort erleichtert mich ganz und gar nicht. Irgendetwas stimmt nicht.
Tenebris! - fährt es mir durch den Kopf. Und dann erkenne ich, was mir seltsam erscheint.
"Wo sind wir?"
Das ist nicht der Teil, wo sich Tenebris Studierzimmer und sein Schlafgemach befinden. Ich kenne die Tür, die sich vor uns befindet. Verwittertes Holz mit einer stark verwucherten Schnitzerei. Äste, Blätter und Ranken bilden ein wildes Durcheinander.
Anden macht zwei Dinge gleichzeitig und viel zu schnell, als dass ich reagieren könnte. Er packt meinen Arm, stößt die Tür auf und zieht mich hinter sich her. Mit der anderen Hand schlägt er die Tür zu. Der Knall hallt ähnlich bedrohlich in meinen Ohren wider, wie zuvor Erits Name.
Noch immer hält er meinen Arm gepackt. Sein Griff ist viel zu fest. Aber ehe ich mich winden und von meinem Schock erholen kann, hat er auch meinen anderen Oberarm gepackt. Ich will ihn von mir wegstoßen, aber er kehrt meine Bewegung mühelos ins Gegenteil um und presst mich mit dem Rücken an einen Stamm. Die Rinde bohrt sich unangenehm in meine Haut. Mein Kopf schlägt schwungvoll gegen die harte Borke. Ich will nach Anden treten, aber er presst seinen Körper auf mich, fixiert meine Füße mit seinen, so dass ich mich nicht mehr bewegen kann. Selbst Luftholen wird unmöglich. Ein kläglicher Laut entfährt meiner Kehle.
Anden lacht und führt meine Hände grob vor meinen Körper. Etwas schließt sich um meine Handgelenke und zerrt mich vorwärts, dass ich taumele.
Aber endlich kann ich wieder atmen.
"Was soll das?" Meine Stimme klingt rau, die Worte sind mehr ein klägliches Wimpern, als die empörte Drohung, die ich beabsichtigt hatte.
"Sei still!", zischt Anden und auch um meine Füße legt sich eine Fessel. Ich kann meine Beine nur noch wenige Zentimeter bewegen. Trotzdem zieht mich Anden an einem Seil unbarmherzig vorwärts, immer tiefer und tiefer hinein in seinen wilden Wald.
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Brennende Feuer - Dunkle Schatten
FantasyAlles beginnt mit einer außerkörperlichen Erfahrung für Dalerana. Dann steigt die junge Frau hinab in das Reich des Todes, wo nichts mehr ist, wie es sein sollte. Eine Katastrophe droht, die Arbeit von Jahrtausenden in endlose Abgründe zu reißen. Au...