19) Eine weitere Begegnung

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Meine Finger wandern über die Hieroglyphen im Sandstein.

Tierdarstellungen wie Falken, Ochsen, Kraniche und Schakale neben abstrakten Symbolen, Henkelkreuzen und gezackten Linien umfassen die Tür aus Stein in deren Mitte sich, eingerahmt von vielen weiteren Hieroglyphen, zwei Götter gegenübersitzen.

"Isis und Osiris", erklärt Aljan. "Die Herrscher über die ägyptische Totenwelt."

"Erzähl mir von ihnen", bettle ich.

"Es ist eine grausame Geschichte", warnt Aljan. "Bist du sicher, dass du sie hören möchtest?"

"Die besten Geschichten sind grausam", beharre ich.

"Na gut, wenn du darauf bestehst." Aljan holt tief Luft. "Osiris war Gottkönig von Ägypten als er von seinem eigenen Bruder Seth getötet und zerstückelt wurde. Doch damit endet seine Geschichte noch nicht. Es war seine Schwester Isis, die die über das gesamte Land verstreuten Stücke einsammelte und wieder zusammenfügte. Für einen Moment erwachte Osiris wieder zum Leben, lange genug, um mit Isis einen Sohn zu zeugen, ehe er wieder in die Unterwelt hinabsteigen musste." Er hält inne und mustert mich.

"Red weiter. Inzest unter Göttern ist nichts Neues, oder?"

Er schüttelt den Kopf. "Nein, da hast du recht. Jedenfalls bringt Isis einen Sohn zur Welt, Horus. Du siehst ihn hier, dargestellt als Falke." Aljans Finger gleiten über die dazugehörige Darstellung.

"Er wuchs heran, rächte seinen Vater und besiegte Seth. Fortan war Horus Herr der Oberwelt und Osiris der Herr der Unterwelt."

"Dann ist das also sein Reich?" Ich deute auf die Tür.

"Bereit die ägyptische Totenwelt zu betreten?", fragt Aljan.

Ich schlucke. Keine Ahnung, was mich dahinter erwarten wird. "Muss ich noch irgendetwas wissen?" Für den Anfang habe ich genug von unangenehmen Überraschungen.

"Die Ägypger glaubten an die Möglichkeit, nach dem Tod weiterzuleben. Aber nur, wenn sie zuvor ein entsprechendes Leben führten."

Ich nicke. "Also ganz ähnlich wie die christliche Vorstellung von Paradies und Hölle."

"So ähnlich zumindest, wobei diese Vorstellung seit Martin Luther nicht mehr ganz aktuell ist. Gottes Liebe und Gnade und Vergebung für alle und so weiter. Aber das führt jetzt zu weit." Er räuspert sich. "Jedenfalls mussten sich die Verstorbenen einem Totengericht stellen und ihr Herz gegen die Feder der Maat wiegen lassen. Nur, wenn die Waage ausgeglichen oder leichter war, durfte man sich auf ein ewiges Leben freuen. Alle, deren Herz schwerer war, mussten einen zweiten, endgültigen Tod sterben."

"Ich erinner mich, davon habe ich im Geschichtsunterricht gehört. Das heißt wir betreten jetzt dieses Totengericht? Treffen wir Osiris und Isis?"

Aljan lacht. "Nein, das hat mein Vater nicht gewagt, einen weiteren Herrn über die Unterwelt zu erschaffen. Du findest das Reich verlassen und ziemlich mitgenommen vor. Hier hat es begonnen mit der Zerstörung und hier ist es am schlimmsten." Er seufzt. "Bereit?"

Ich nicke.

Aljan murmelt ein unverständliches Wort und die schwere Sandsteintür schwingt sich zur Seite ohne ein weiteres Zutun. Er muss meinen ungläubigen Blick bemerkt haben.

"Du musst wissen, dass die Seelen der Verstorbenen zuerst den Weg zum Totengericht finden mussten." Aljan streckt seinen Arm aus und lässt mir den Vortritt. Ein wenig zögerlich trete ich über die Schwelle, aber ich vertraue ihm genug, um zu spüren, dass er mich nicht in mein Verderben führen würde.

Vor mir erstreckt sich kein Raum, wie ich es erwartet hätte, sondern eine weite Landschaft. Am Horizont erhebt sich eine Hügelkette, in einer kleinen Senke schlängelt sich ein Fluss umgeben von einem breiten Flussbett dahin.

Brennende Feuer - Dunkle SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt