Tiefgründige, nie enden wollende Schwärze. Chaos. Leere. Ein Nichts direkt vor uns. Erst wenige Meter, dann nur noch Zentimeter. Dann gleiten die Pferde mit donnernden Hufen darüber, als sei der Abgrund fester Boden unter ihren Füßen. Und dann fliegen wir immer höher und höher über den Schlund hinweg. Wie ein langer Riss zerteilt er den Untergrund in zwei Hälften. Diesseits und Jenseits. Ein gewaltiger Abstand trennt die beiden Seiten. Wir befinden uns inzwischen gut auf halber Strecke zwischen hier und dort. Nur dunkles Nichts unter uns wie ein schwarzes Loch, das alles schluckt. Dinge entstehen und Dinge vergehen - zwei Seiten der Medaille.
Erit wird von Adrasteia mitgezogen wie ein Drachen an einer Schnur. Er macht keine gute Figur.
"Erit?", frage ich. "Möchtest du losgebunden werden?" Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist, aber ich kann mir die Frage nicht verkneifen. Er antwortet nicht, entweder weil er so damit beschäftigt ist, mit den Armen zu rudern oder weil er nicht will. Ich kann es ihm nicht verübeln, aber ich bin noch nicht fertig mit ihm.
"Vielleicht wartet dort unten jemand auf dich. Und vielleicht möchte ein Gott noch ein Opfer dargebracht haben."
Aber auch diesen Vorschlag ignoriert er.
"Vielleicht ist das, was dir bevorsteht, schlimmer. Gelten die göttlichen Gebote nicht auch in der Unterwelt? Du sollst Vater und Mutter ehren? So wie ich Tenebris kenne, hat er doch sicher Wert auf den richtigen Umgang gelegt. Was wird deine Strafe sein? Erinner dich an Tantalos, Sisyphos und viele andere. Die Götter waren selten gnädig."
Erit schweigt und rudert mit den Armen wie ein Vogel mit seinen Flügeln, um das Gleichgewicht zu halten. Die Pferde traben der anderen Seite entgegen.
Aidos muss meine Seitenhiebe gehört haben, aber sie sagt nichts.
Mit einem sanften Ruck setzen die Hufe auf festem Boden auf und auch Erit gelingt es, mit beiden Füßen zuerst zu landen. Die Reiterinnen verlangsamen das Tempo. Vor uns liegt ein dichter Wald. Nirgends ist ein Pfad zu erkennen. Wir reiten einfach zwischen zwei Bäumen hindurch und die anderen tun es uns gleich.
Der Wald scheint in endlose Dunkelheit gehüllt. Dike, Adrasteia, Aidos und Nemesis lenken ihre Rösser konzentriert über Wurzeln und Geflecht ohne sich darin zu verheddern. Es ist still um uns. Kein Vogel zwitschert und kein Wind weht.
Schließlich ist es Erit, der sich räuspert. "Ich erbitte göttliche Gnade. Ich habe nur getan, wozu ich geschaffen wurde und gehandelt, wie ich erzogen wurde. Welcher gerechte Gott kann mich dafür bestrafen?"
"Ach Erit, es geht nicht um Strafe und es geht nicht um dich. Hast du das immer noch nicht verstanden?", fragt ihn Adrasteia.
"Überschätze dich nicht selbst", empfiehlt ihm Aidos, "du bist nur ein kleines Zahnrädchen im großen Ganzen."
Auch Dike beschenkt ihn mit einem milden Lächeln. "Aber wenn du es ernst und aufrichtig meinst, wird dir sicher Gnade zuteil werden."
Erit fügt sich seinem Schicksal oder zumindest zieht er es vor, nicht mehr um Gnade zu winseln.
Die Stille, das gleichmäßige Schaukeln und die Anspannung der letzten Stunden müssen dazu geführt haben, dass ich hinter Aidos ins Land der Träume hinübergedriftet bin. Vielleicht habe ich Erits Winseleien so auch nur verschlafen.
Als ich wieder zu mir komme, liegt der Waldrand hinter uns. Die Pferde, froh, wieder freies Gelände vor sich zu haben, beschleunigen ihr Tempo zu einem gestreckten Galopp. Ich klammere meine Hände fester in Aidos ledernen Gürtel.
Am anderen Ende des Horizonts erhebt sich ein heller Streifen, der vom Beginn eines neuen Tages kündet, wie es scheint, steuern wir direkt darauf zu.
Aber dann halten die Reiterinnen ihre Pferde doch an und steigen der Reihe nach ab. Eine kleine Hütte aus Holz zeichnet sich am Ende der Wiese gegen den Morgenhimmel ab. Aus dem Dach ragt ein Schornstein. Dicker, grauer Rauch verteilt sich über dem morgendlichen Farbspiel des Morgenrots.
Wir schreiten darauf zu. Nemesis öffnet die Tür und wir folgen ihr ins Innere.
Ein gemütlicher Raum, Geweihe und Pelze schmücken die Wände. Ein geknüpfter Traumfänger pendelt von der Decke. Gegenüber liegt eine weitere Tür. Und als wir hindurchgehen, stehen wir auf einem Flur voller Bilder und Gemälde, der mir inzwischen sehr vertraut vorkommt.
Unvertraut sind nur meine vier Begleiterinnen. Ohne ihre Reittiere kommen sie mir vor, als würde etwas fehlen.
Adrasteia zieht immer noch Erit hinter sich her. Nichts zeugt mehr von seiner Erhabenheit. Seine Kleidung ist nass und schmutzig. An einigen Stellen eingerissen. Mehrere Schürfwunden zieren seine Haut. In seinem zersausten Haar haben sich Blätter und Zweige verfangen. Er gleicht mehr einem Landstreicher als einem Höllenprinz.
Aber mein Mitleid hält sich in Grenzen.
Auch die apokalyptischen Reiterinnen scheinen sich an seinem Zustand nicht aufzuhalten. Mit entschlossenen Schritten eilt Nemesis nach rechts, Aidos, Dike und Adrasteia mit Erit im Schlepptau folgen ihr. Und ich folge ihnen.
Als wir um eine Ecke biegen, sehe ich zwei vertraute Gestalten in einiger Entfernung vor uns im Flur stehen, als würden sie auf etwas oder jemand warten.
Sophia in einem weißen Gewand mit goldenem Schmuck und Aljan in einem dunklen Anzug. Die schwarzen Haare ordentlich frisiert. Er wirkt ausgeruht.
Ich erkenne den Moment, als er mich erkennt genau. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht und dann rennt er los. Mir entgegen.
Ich habe erst wenige Schritte gemacht, als er mich erreicht. Seine Arme fliegen um meinen Hals. Er hebt mich hoch. Ich lasse mich hochheben, in seine Arme ziehen und im Kreis herum wirbeln wie ein Kind.
Dann scheint Aljan einzufallen, wo wir uns befinden und wer bei uns ist. Ziemlich plötzlich stehe ich wieder auf dem Boden, noch immer leicht schwankend. Er blickt verlegen zu Boden, während eine Röte über seine Wangen kriecht.
Sophia schmunzelt. "Tut, was ihr noch nicht getan habt. Wurde aber auch Zeit."
"Es ist auch Zeit für etwas anders", ergänzt Nemesis. "Lasst uns das Göttergericht beginnen."
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Brennende Feuer - Dunkle Schatten
FantasyAlles beginnt mit einer außerkörperlichen Erfahrung für Dalerana. Dann steigt die junge Frau hinab in das Reich des Todes, wo nichts mehr ist, wie es sein sollte. Eine Katastrophe droht, die Arbeit von Jahrtausenden in endlose Abgründe zu reißen. Au...