38) Alte Weisheit

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Die blutroten, wütend umherwirbelnden Schwaden sind einem blassen und trägen Grau gewichen, das mich an einen tristen Novembernebel erinnert. Und es erinnert mich daran, wie schlecht es dem Erschaffer der Unterwelten gehen muss, der sich auf unsere Schultern stützt und keuchend und mit rasselndem Atem im Schneckentempo über den Flur hinkt. Tenebris ist am Ende, aber es erstaunt mich, wie schwer er auf mich drückt. Lange kann ich seine Last nicht tragen, aber zum Glück steuert Aljan auf eine vergoldete Tür zu, die nicht allzu weit von dem Durchgang zur Bibliothek entfernt liegt. Mir bleibt nicht lange, um die kunstvoll hineingearbeiteten Schnitzereien zu bewundern, bevor Aljan mit der freien Hand die Klinke herunterdrückt und uns in den dahinterliegenden Raum einlässt.

Polierte Fliesen bilden ein schwarzweißes Schachbrettmuster und führen zu einer imposanten Treppe, die links und rechts an der Wand entlang nach oben führt und von einem goldenen Geländer eingefasst wird, das sich in der zweiten Etage zu einer Art Balustrade verläuft. Auch die Wände hier sind von zahlreichen schweren Bilderrahmen geschmückt. Alle aus Gold mit kunstvollem und schwerem Rahmen. Ölgemälde. Sicher die Originale berühmter Bilder, deren Kopien dafür irgendwo in den Museen der Welt hängen. Mit Erleichterung bemerke ich, dass Aljan uns nicht zu einer der Treppen führt, sondern auf den Durchgang in der Mitte zusteuert.

Vermutlich hätte ich nicht mehr die Kraft gehabt, seinen Vater ins zweite Stockwerk zu bugsieren.

Hinter dem Durchlass öffnet sich ein weiter Raum, der mich sofort an die Bibliothek erinnert, aber ganz so groß ist er nicht. Trotzdem hat er ein ähnliches Deckengewölbe mit einer Kuppel. Die Bemalung erinnert mich an den Sternenhimmel, dazwischen kampieren nackte Putten und unbekleidete Menschen. Jede Menge schmückendes Blattwerk und Goldtand. Die Decke wäre einer Kirche würdig, aber lange verweilt mein Blick nicht daran. An den Wänden befinden sich zu beiden Seiten hohe Bücherregale, außer am hinteren Ende. Das ähnelt tatsächlich einer Kirchenfassade mit dem großen Buntglasfenster, durch das Licht auf einen Altar fällt. Allerdings entpuppt sich der Altar auf den zweiten Blick als Bett.

Ein weißes Tuch ist darüber gelegt. Die Enden schließen passgenau mit dem Boden ab. Ächzend lässt sich Tenebris daraufsinken und dann zurückfallen, bis er liegt. Er schließt die Augen und nach ein paar rasselnden Atemzügen ist er seltsam still. Seine gekrümmten Finger sind vor der Brust verschränkt. Wie zum Gebet. Ich kann den alten Herrn nicht länger ansehen und wende meinen Blick zu Aljan.

"Bist du sicher, dass wir ihn alleine lassen können?", flüstere ich. Aljan blickt skeptisch zu seinem Vater. Er nickt. "Wir müssen. Lass dich nicht täuschen, er ist zäher als er scheint."

Zur Bestätigung seiner Worte klopft Aljan auf den Gegenständ in seiner Hand. Das Original der Schriftrolle, in die irgendjemand meinen Namen geschrieben hat. Ich seufze.

"Na gut, dann lass uns dieses Ding mal zurückbringen.

Im Flur steht der Nebel wie eine weißgraue Wand. Kein früherer Zustand wirkte beängstigender als dieser Stillstand. Ich wage kaum zu atmen aus Furcht, mein Atem könnte die Nebelschwaden aufwirbeln. Auch Aljan geht schweigsam neben mir her. Dieses Mal dauert es unfassbar lange, bis wir endlich vor einer schlichten Tür aus grauem Stein stehenbleiben. Wir sind in einem Teil, der mir völlig unbekannt vorkommt und ich frage mich, wie weitläufig und riesig diese Welt sein muss, von der ich erst einen winzigen Bruchteil kenne. Bestimmt stellt es sich als Irrtum heraus, dass ausgerechnet ich diejenige sein soll, die sie retten soll.

Wie auch sollte ausgerechnet mein Name in einem Schriftstück stehen, das vor tausenden von Jahren geschrieben wurde?

Noch ehe ich meinen Kopf schütteln kann, hat Aljan die schmucklose Tür geöffnet und mich hindurchgezogen.

Sie führt auf einen Wandelgang. Über unseren Köpfen verlaufen kreuzförmig überdachte Wölbungen, deren Stützsäulen neben uns in den Boden hinab laufen. Der Gang führt rund um ein kleines Gärtchen herum. Genau in der Mitte der Rasenfläche steht ein Springbrunnen, aus dessen Wassermitte eine einzelne Fontäne emporsprudelt. Keine Figur, kein Protz lenkt ab. Gerade die Schlichtheit wirkt beeindruckend. Auf den beiden Querseiten öffnen sich zwei Torbögen in der Mitte des Kreuzgangs zu einem geschotterten Weg, der von links und rechts auf den Brunnen zuläuft. Aljan steuert auf den von uns aus rechts gelegenen Weg zu und geht direkt zu dem Wasserbecken. Er krempelt seine Ärmel zurück, klemmt die Schriftrolle unter den Arm und taucht die Hände in das Wasser, dann benetzt er seine Stirn.

"Wasch dich, bevor wir vor Sophia Shekinah treten."

Ich tauche meine Hände in das kühle Nass.

"Auch die Stirn", fordert mich Aljan auf und ich gehorche. Mich überkommt ein seltsames Gefühl. Noch nie habe ich mich reiner und erfrischter gefühlt.

Aljan grinst mich bloß an. "Bereit?", fragt er und ich nicke.

Wir folgen dem Schotterweg über die Rasenfläche und treten auf der gegenüberliegenden Seite wieder in den Kreuzgang. Aljan führt mich zu einer weiteren Tür. Was dahinter liegt, passt so gar nicht zu dem schlichten Kreuzgang.

Wir stehen in einem länglichen Raum. Wobei mir Raum nicht als das geeignete Wort erscheint. Sakralraum trifft es eher. Spiegelglatte Fliesen in hell und dunkel bilden ein kunstvolles Muster und bedecken den Boden. Alle paar Meter flutet Licht durch deckenhohe Bogenfenster. Die Wände, oder was man davon sieht, glänzen in weißem Marmor mit goldenen Elementen. Aber das Gold wirkt nicht protzig oder überladen, sonstern edel und filigran. Aber das eigentlich Beeindruckende sind die tausend und abertausende von Büchern und Schriften, die sich entlang der Wände aufreihen als wären sie ein Teil davon. Mir steht der Mund offen und mein Körper steht still, um die herrliche Pracht aufnehmen zu können.

Mir entfährt ein leises "Oh!" und Aljan steht bereits ein paar Meter vor mir im Raum, bis er bemerkt, dass ich zu einer Salzsäule erstarrt bin. Auch die Decke des Raumes ist bemerkenswert. Kuppel reiht sich an Kuppel. Kunstvoll vergoldet und bemalt mit friedvollen und harmonisch wirkenden Bildern. Es ist ein Raum, der dazu einlädt, sich auf den Boden zu legen und sich in die liebevollen Details der Zeichnungen hineinzuverlieren. Ich bin sicher, selbst nach Stunden würde man noch immer neue Aspekte finden und sich staunend in Betrachtungen des Alten wiederfinden.

Aber ich muss mich von dem Anblick losreißen und Aljan folgen. Ganz am Ende des Raumes steht eine Frau hinter einem weißen Lesepult. Sie trägt eine weiße bodenlange Robe. Schlicht und ohne Schmuck und ich glaube im ersten Moment, dass ich Hekate, der Göttin der vielen Dinge aus Persephones Hain gegenüberstehe, aber beim Näherkommen bemerke ich, dass sie dieser nur ungemein ähnlicht sieht mit ihrem schlichten Auftreten.

Als wir wenige Meter vor ihr stehen, blickt sie auf und hebt ihre Hände zur Begrüßung.

"Selig, wer die Worte der Prophetie liest, und jene, die sie hören und das halten, was in ihr geschrieben ist, denn die Zeit ist nahe."

Aljan senkt seinen Kopf und streckt die Hand mit der Schriftrolle aus. "Ich bin gekommen, um dir das hier zurückzubringen und um mich zu entschuldigen."

Sie erhebt erwartungsvoll den Blick und Aljan überreicht ihr das Pergament.

"Ich bitte um Verzeihung im Namen meines Vaters."

Die Göttin nickt. "Ich weiß, Aljan. Ich sehe es in deinem Herzen." Dann wandert ihr Blick zu mir. "Sei willkommen." Sie mustert mich lange, dann wandern ihre Finger über die Siegel der Schriftrolle. Immer wieder fährt sie über die Bruchstelle, ehe sie das Pergament schließlich aufrollt und eine Weile darin liest. Dann seufzt sie und blickt zu uns auf.

"Ich wünschte, Tenebris hätte es nicht getan, aber nun ist es nun einmal wie es ist. Die Zeit ist angebrochen. Der Lauf der Dinge lässt sich nicht mehr verhindern."

"Was heißt das?", fragt Aljan.

"Es heißt, das alles vorherbestimmt ist. Was geschaffen wurde, nicht aus dem Schoß Gottes und ohne göttlichen Segen, muss selbst Leben schaffen und Segen finden, damit das Gleichgewicht wieder hergestellt ist. Es muss Gnade finden vor den Augen des allmächtigen Schöpfers. Darin besteht eure Aufgabe, darin besteht der göttliche Plan und darauf münzt die Warnung, die ihr erhalten habt." Ihre Finger rollen das Papier zusammen und liebkosen die Siegel.

"Was aufgerissen wurde, muss heilen."

Brennende Feuer - Dunkle SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt