Die Götterstatuen wirken zeitlos und lebendig, als würden sie jeden unserer Schritte mit Blicken verfolgen. Farbenprächtige Abbildungen mit filigranen Körpern, langen Füßen und dünnen Armen in kunstvollen Gewändern. Die altebekannten horus- und schakalköpfigen Gottheiten, aber auch normale Menschen mitten im Geschehen eingefroren. Eine Frau streckt beide Hände vor sich in die Höhe, ein anderer hat seinen Nebenmann gepackt, als wären sie inmitten ihrer Tätigkeit unterbrochen und für die Ewigkeit eingefroren worden.
Eine Gottheit sticht besonders hervor, da sie auf einem Thron sitzt, das Haupt von einem hoch aufgetürmten Kopfschmuck bedeckt. Es ist eine männliche Gottheit, deren Kinn ein langer spitz zulaufender Bart ziert. In jeder seiner erhobenen Händen hält er einen Gegenstand. Hinter ihm stehen einige Frauengestalten mit ausgestreckten Armen, vermutlich Dienerinnen.
Aljan zieht mich an der Szene vorüber. Mir bleibt keine Zeit, um weitere Details der kunstvollen Wandbemalung zu begutachten. Das hier wäre als Museum wirklich atemberaubend. Vielleicht eine Geschäftsidee die ich Tenebris bei Gelegenheit und nach vollbrachtem Auftrag vorschlagen kann.
Hinter der Thronszene verändern sich die ausgestellten Figuren, die hier dicht an dicht zu beiden Seiten aufgereiht stehen.
Die meisten haben ihre Arme vor der Brust gekreuzt und im Gegensatz zu den Figuren des Totengerichts massige, ovale Körper. Alle tragen die gleiche Kopfbedeckung, unter der lediglich die Ohren hervorschauen, darunter schwarz umrahmte Mandelaugen und feine Gesichtszüge.
"Uschebtis", erklärt Aljan im Vorübergehen. "Diener im Jenseits. Sie erwarten hier diejenigen, die sich beim Wiegen ihres Herzens bewährt haben, um ihnen im Ta-Djeser Arbeiten abzunehmen. Ich fürchte, da wir uns um den Wiegevorgang gedrückt haben," ein Grinsen legt sich um seine Lippen, "steht uns keiner von ihnen zu."
"Macht nichts", erwidere ich nach einem kurzen Blick auf die Dienstbotenarmee, "sie sehen eher hinderlich für unser Vorhaben aus. Außerdem wollen wir uns ja nicht ins ewige Leben verabschieden, sondern nur zurück."
Ein helles Lachen begleitet Aljans Anwort. "Ich glaube, da hast du recht."
Dann verengt sich der Raum und wir eilen durch einen mehreren Meter langen, schmucklosen Durchgang aus Sandstein, der schließlich vor uns in eine weitere unscheinbare Sandsteintür mündet.
Aljan stößt diese ohne zu zögern auf und helles Sonnenlicht strahlt uns entgegen, so dass ich erst einmal blinzeln muss.
Es dauert eine Weile bis sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt haben. Dann bemerke ich meinen Irrtum. Das Licht stammt nicht von der Sonne, sondern wird von der Wasseroberfläche eines Sees widergespiegelt. Über uns liegt auch kein Himmel, sondern die Strahlen brechen sich an einer Decke, die mit unzähligen im Licht der Wellen glitzerden Kristallen bedeckt ist. Vor Staunen steht mein Mund weit offen. Das Schauspiel ist beeindruckend. Zumindest für mich. Aljan hat keinen Moment innegehalten, um es zu bewundern, sondern sich direkt hinunter zum Ufer begeben. Ein paar rund geschliffene, teilweise feuchte Kieselsteine und Sand markieren den Uferbereich, der von dichtem Schilfgras bewachsen ist. Inmitten dieses Schilfgrases steht Aljan mitsamt seiner Hose im Wasser. Die Wellen umspülen seine Oberschenkel, während er mit einer Hand die mannshohen Schilfhalme beiseite drückt und sich mit der anderen Hand an etwas zu schaffen macht, das im Schilf verborgen sein muss. Er zerrt und zieht.
Ich folge seinen Fußspuren im steinigen Sand, der zum Wasser hinabführt. Kurz bevor mich die Wellen erreichen können, bleibe ich stehen und beobachte sein Treiben.
Endlich wird mir klar, was er da macht. In diesem Augenblick gelingt es ihm, den Gegenstand aus dem Griff der Binsen zu befreien und er zieht ihn ins Freie.
"Na endlich." Er winkt mir zu. "Komm schon!"
Er schiebt das schmale Boot in Richtung des Strandes. Es wackelt bedenklich. Ohne trockene Füße werde ich nicht hineingelangen.
"Wir werden beide umkippen", stelle ich fest.
"Stell dich nicht so an." Er grinst und entblößt dabei seine geraden, weißen Zähne. Beneidenswerte Zahnarztarbeit, nur dass er vermutlich noch nie einen gesehen hat. "Steig schon ein, ich halte die Barke fest." Unter den Ärmeln seines Shirts spannen sich beeindruckende Muskeln, während er den Rand der Barke mit beiden Händen festhält.
Vorsichtig lasse ich mich hineingleiten und er hält sein Versprechen. Es wackelt zwar, aber ich bleibe mit Ausnahme der Schuhe und den Enden meiner Hosenbeine trocken.
Erst dann bemerke ich das nächste Problem. "Und jetzt?", frage ich.
"Halt dich fest, jetzt wackelt es ein wenig", kündigt er an, schiebt das Boot mit mir darin in tieferes Wasser und schwingt sich letztendlich selbst hinein. Wie durch ein Wunder kippen wir dabei jedoch nicht um und sinken auch nicht. Es rumpelt noch einmal stark, als er sich hinsetzt und ausrichtet. Wieder kann ich das Spiel seiner Muskeln beobachten, wie er nach zwei Rudern greift und sie zu jeder Seite ins Wasser gleiten lässt. Zumindest hat er keine Augen im Rücken, um meinen Blick zu bemerken und auch gar keine Gelegenheit dazu, denn er muss ganz schön drücken und schieben, um uns aus dem Binsengewirr ins offene Wasser zu bringen. Ohne dass wir dabei kentern. Aber er schafft es schließlich doch.
Vor uns erstreckt sich zu beiden Seiten der unterirdischen Höhle die funkelnde Wasseroberfläche. Selbst vor uns kann ich kein Ende der Wellen entdecken.
"Wo mündet der See?"
Zwischen gleichmäßigen Ruderzügen und dem Auf und Ab seiner Armmuskeln folgt die Antwort. "Das ist das Gefilde der Binsen. Jeder, der das Wiegen bestanden hat, gelangt über diesen Weg ins ewige Leben, bei den Ägyptern Ta-djeser, Lichtland, genannt. Dieser See reinigt für das ewige Leben. Herzlich Willkommen im Nildelta, dem er nachempfunden ist." Er unterbricht für einen weiteren Ruderschlag, der uns weitertreibt.
"Er mündet in einem Wasserlauf namens Merencha. Von dort aus gelangen wir wieder auf den Gang zurück."
Ich warte den nächsten Ruderzug ab. "Na dann", rufe ich. "Hört sich nach einem Kinderspiel an."
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Brennende Feuer - Dunkle Schatten
FantasyAlles beginnt mit einer außerkörperlichen Erfahrung für Dalerana. Dann steigt die junge Frau hinab in das Reich des Todes, wo nichts mehr ist, wie es sein sollte. Eine Katastrophe droht, die Arbeit von Jahrtausenden in endlose Abgründe zu reißen. Au...