49) Abschied und Anfang

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Genau wie wir gestaltlos sind, ist es auch der Fürst der Finsternis. Ein Schatten seiner selbst schwebt wenige Meter vor uns knapp über dem Boden.

Aljan hat angehalten und wartet offensichtlich auf eine Erklärung.

"Bist du inzwischen klüger, mein Sohn?" Die Stimme gehört unverkennbar Tenebris.

Auch ohne einen festen Körper, kann ich sehen, wie Aljans Geist nickt.

"Wir waren in deinem Studierzimmer. Du hast über die Wilde Jagd gelesen. Hast du auch an die Weissagung der Seherin gedacht? Balders Tod?"

Jetzt scheint es Tenebris zu sein, der nicht weiß, was er sagen soll. Die Stille streckt sich ins Unerträgliche und mir brennen so viele Fragen auf der Zunge.

Schließlich räuspert sich der Fürst der Finsternis. "Ragnarök. Und neu ward die Welt aus den Fluten geboren." Ein weißer Nebelfetzen löst sich aus Tenebris gestaltloser Form und wirbelt einmal ringsum. "Sag, siehst du hier irgendwo Fluten? Ich sehe nur Abgründe und Zerstörung."

"Es ist nicht das erste Mal", beharrt Aljan. "Nur was vergeht, kann neu werden, hat Hel gesagt." Ein Ruck geht durch seine Form, gut sichtbar. "Was machst du hier, Vater?"

Im nächsten Moment verfestigt sich Aljan und seine Füße finden wieder festen Stand auf der Eisfläche. Er ragt hoch auf, fährt sich durch die dunklen Haare und seine eisblauen Augen fixieren Tenebris Schattengestalt wenige Zentimeter vor sich.

"Was mache ich wohl hier?" Tenebris stößt einem Atemzug aus, der einige Nebelschwaden wie tanzende Spinnweben von sich fortwirbeln lässt. "In Náströnd, dem Strafort für Verbrecher und Eidbrüchige. In Geisterform. Aber nicht so wie ihr."

"Vater!" Aljans Ausruf klingt verzweifelt. Er wedelt mit den Händen vor seinem Gesicht herum, streckt sie aus und wischt einmal durch die körperlose Gestalt seines Vaters. Tenebris wird verwirbelt, wie der Rauch einer ausgeblasenen Kerze.

Ich schaue Aljan schockiert an und beobachte, wie sich die aufgewirbelten Fetzen allmählich wieder vereinen. Tenebris, oder das, was von ihm übrig ist, weht zu mir herüber. Ich schwebe noch immer hoch über dem Boden in sicherem Abstand.

"Nicht so wie ihr. Nicht mehr", sagt er zu mir. "Der Schwachkopf soll seine Geistesform einnehmen, sonst kann er mich nicht verstehen."

Aljan sucht immer noch die Gegend vor sich ab. "Vater?", ruft er und seine Atemluft bildet weiße Wölkchen vor seinem Mund.

"Aljan", rufe ich und er dreht sich zu mir um. "Dein Vater ist hier. Bei mir." Aljans Blick richtet sich gen Himmel, wendet sich hin und her, aber er versteht nicht.

"Du kannst ihn nicht verstehen. Verwandel dich wieder", weise ich ihn an.

Wie von einer Tarantel gestochen wirbelt Aljan herum und fährt im nächsten Moment wie ein Wirbelsturm hinauf zu mir. Erst kurz vor seinem Vater kann er sein Tempo verlangsamen. "Vater!" Dieses Mal klingt es erleichtert.

"Schwachkopf!", zischt Tenebris.

"Was bedeutet das?", fragt Aljan erneut. "Warum bist du hier?" Durcheinander wie er ist, ignoriert er die Beleidigung seines Vaters oder ist selbige bereits gewohnt.

"Streng deine grauen Gehirnzellen an", fordert Tenebris.

Bei mir reißen die Geduldsfäden, bevor Aljan antworten kann und ich habe endgültig genug von den beiden. "So wie ich es verstanden habe, ist dein Vater wirklich hier. Am Náströnd, in seiner Geisterform. Er kann sich nicht verfestigen und du kannst ihn so nicht verstehen. Richtig soweit?"

"Richtig soweit!", erwidert Tenebris.

"Was bedeutet das?", erkundigt sich Aljan und ich fühle mich in einer Endlosschleife gefangen.

"Nur was vergeht, kann neu werden." Ich kann das Bedauern aus Tenebris Stimme deutlich heraushören.

"Du musst erst vergehen, bevor du dich wieder verjüngen kannst?", fragt Aljan. Ich kann die Hoffnung, die in seiner Frage mitschwingt, beinahe sehen.

Auch Tenebris scheint nun die Geduld zu verlieren. Anstatt auf die Frage einzugehen, umkreist seine Geistgestalt seinen jüngsten Sohn, dann wiederholt er dasselbe bei mir. Ich spüre ihn wie ein sanfter Wind auf meiner Haut.

"Pass auf ihn auf", wispert er in mein Ohr. "Der Knabe ist schlau wie er dumm ist. Clever und naiv." Dann macht er eine Pause. Wirbelt einmal um mich herum. "Tut was ihr noch nicht getan habt", haucht er in mein anderes Ohr.

Ich erinnere mich, diese Worte schon einmal gehört zu haben.

"Was meinst du damit?", frage ich in den Windhauch, der mich umgibt.

Aber Tenebris lacht nur. Leise und immer leiser erklingt sein Lachen.

"Vater?", ruft Aljan.

Aber der Fürst der Finsternis scheint es nicht mehr zu hören. Er entfernt sich von uns, wirbelt ein letztes Mal umher und löst sich schließlich in Luft auf.

Er ist weg. Nicht mehr zu sehen, nicht mehr zu hören. Weg.

Entsetzt starren wir auf die leere Eishölle vor uns.

Brennende Feuer - Dunkle SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt