Der Granatapfel vom Baum der Verlassenen liegt wie ein Talisman in meinen Händen. Ich weiß, welch kostbares Geschenk ich da erhalten habe. Das Geschenk einer Göttin. Nie und nimmer wäre ich auf den Gedanken gekommen, davon zu kosten. Etwas, was sie mir strengstens verboten hat, aber dieser Warnung hätte es gar nicht bedarft.
"Was hast du dir von ihr gewünscht?", reißt mich Aljan aus meinen Gedanken und beendet meine verzückte Betrachtung der blutroten Frucht.
Schützend lege ich meine Hände über den Granatapfel. "Das darf ich nicht verraten." Eigentlich hat mir Hekate nichts dergleichen aufgetragen, aber was geht es Aljan an, was ich mir wünsche. Ich werde seine Neugier jedenfalls nicht befriedigen, so wie er es mit meiner getan hat. Diese kleinliche Rache ist mein.
Die Wärme, die ich in Persephones Hain noch verspürt hatte, ist einer klammen Kälte gewichen. Ich frage mich gerade, ob es an den kargen, zerklüfteten Felsen liegt, denen wir abwärts auf einem ausgetretenen Bergpfad folgen. Hier lädt nichts zum Verweilen ein.
"Moment mal!" Ich bleibe auf einer Art überhängenden Klippe stehen und vergesse meine Angst vor der Höhe für einen Augenblick. Der Rand des Abgrunds und die Angst abzustürzen, sind weit genug entfernt.
"In Persephones Hain gab es keinerlei Anzeichen der Zerstörung." Unter uns erstreckt sich ein weites Meer, aber es sieht abstoßend aus. Keine blauen Weiten, sondern dunkle, bedrohlich wirkende Strudel zischen und brodeln vor sich hin. Statt Schaumkronen schwimmt irgendetwas anderes auf den Wellenkämmen. Etwas, das von hier oben aussieht, wie kleine Styroporkügelchen, die von den Wogen hin und her gebeutelt werden. An der Küste zieht sich ein langer Streifen aus zerklüfteter Felsen entlang. Ein zur Erholung einladender Strand hätte nicht hierher gepasst, schließlich habe ich nicht vergessen wo wir sind. Allein die schwarzen Risse erinnern mich stetig daran. Von dieser Felsplattform aus sind sie nicht zu übersehen. Sie ziehen sich wie schwarze Schnecken kreuz und quer über den Küstenstreifen. Längs und quer, große und kleine.
Ich schüttle den Gedanken schnell von mir, die Umgebung ist abstoßend genug wie sie ist. Aber ich kann die Gänsehaut nicht mehr abwenden, die sich über meine Arme zieht.
Aljan kaut auf der Unterlippe. Auch sein Blick richtet sich auf das Kreuz und Quer der Zerstörung. "Du hast Recht", sagt er nur und kaut erneut auf seiner Lippe. Überhaupt ist er seit dem Abschied von der Göttin eher schweigsam. Ob ihm die Umgebung ebenfalls auf die Stimmung drückt?
"Was beschäftigt dich?", wage ich nach einer Weile zu fragen. Mittlerweile sind wir so weit hinabgestiegen, dass das Geräusch der Brandung sich nicht mehr ausblenden lässt. Das Zischen und Tosen der Wellen trägt zu meiner wachsenden Unruhe bei. Und ein Geruch nach Schwefel und Fäule sorgt dafür, dass mein Unwohlsein ebenfalls wächst.
Langsam schaut Aljan mich an, als käme er erst jetzt wieder zurück von einer langen Reise und hätte vergesssen, dass ich da bin. "Ich habe darüber nachgedacht, was Hekate gesagt hat."
Ich brauche meine Frage gar nicht auszusprechen, das Heben meiner Augenbraue scheint ihm auszureichen.
"Darüber, dass jemand nicht gut auf meinen Vater zu sprechen ist. Ich werde mit ihm reden und er wird mir endlich ein paar Antworten liefern müssen." Aljan klingt entschlossen.
"Das glaube ich auch", bekräftige ich.
"Komm mit!", befiehlt Aljan und lenkt seine Schritte zu einem Durchgang in den Felsen. "Sehen wir zu, dass wir diese Welt verlassen."
Ich folge ihm einige unebene Stufen hinunter. Es ist dunkel, aber dafür wird das Tosen der Wellen stetig lauter und der Geruch nach Fäulnis nimmt zu.
Ein paar Mal gerate ich ins Straucheln und muss nach Aljans Rücken greifen, um mich festzuhalten. Aber immerhin erreichen wir das Ende des Tunnels ohne dass ich stürze.
Vor uns erstreckt sich der felsige Küstenstreifen zu beiden Seiten. Aljan wendet sich nach rechts und ich folge ihm über aufragende Gesteinsbrocken. Ich muss meinen Blick auf den Untergrund richten, um nicht doch noch auf den schlickigen, von Gischt bedeckten Steinen auszurutschen oder hängenzubleiben. Es ist alles andere als ein leichter Strandspaziergang. Aljan ist schon ein gutes Stück voraus, als er stehenbleibt und sich zu mir umdreht.
Wortlos wartet er, bis ich zu ihm aufgeschlossen habe. Er steht am Rand eines langen Spalts, der sich längs entlang der Felswand befindet.
"Wenigstens schneidet er uns den Weg nicht ab", bemerke ich. "Wir können daran vorbeigehen."
Er nickt und setzt den Weg fort. Nicht weit vor uns erstreckt sich ein quer laufender Riss, direkt am Fuß der Felsen bis fast zum Wasserrand, aber er ist nicht so lang, dass wir nicht daran vorbei kämen.
So weit in Nähe des Wassers wird der Untergrund ebener. Das Meer spült eine Welle heran und mein Blick fällt auf die weißen Punkte, die sie mit sich trägt und ich erkenne, worum es sich dabei handelt. Schädel und die Überreste menschlicher Gebeine. Mir entfährt ein spitzer Schrei. Und direkt vor meinen Füßen bleibt ein Totenkopf liegen und leere Augenhöhlen starren mich an.
"Keine Angst. Das ist nur Spielerei", beruhigt mich Aljan. "Einer Radierung von Gustave Doré nachempfunden. Das hier ist noch harmlos. Dort vorne ist der Kokytos gefroren und menschliche Häupter ragen aus dem Eis hervor."
Ich kann nicht anders, als seinem ausgestreckten Finger zu folgen. Am Ende der halbrunden Bucht stürzen schwarze Wasser in die Tiefe und vereinigen sich strudelnd und schäumend mit dem Ozean.
"Man kann sogar über die Eisfläche laufen. Aber sogar dort gibt es Risse."
Ich schüttel den Kopf. "Nein, danke. Ich will nicht über menschliche Köpfe laufen."
"Keine Sorge, das musst du auch nicht." Aljan wartet ab, bis sich die nächste Welle zurückgezogen und ihre knöcherne Fracht mitgenommen hat, ehe er an dem breiten Riss vorbeigeht, der uns wie der zu einem schiefen Lächeln verzogene Mund einer Fratze mit gezackten Zähnen ansieht.
Eilig folge ich ihm, aber nicht ohne dass die nächste Welle heranrollt und nach meinem gerade erst wieder getrocknetem Hosenbein leckt.
Aljan zeigt auf die Landzunge am Ende der Bucht, die ein wenig ins Meer hineinragt. "Das Kap Tenaro. Dahinter liegt das Tor zur Unterwelt. Dort stürzen die Fluten des Flammenflusses und der Fluss des Wehklagens in die Tiefe. Wenn die Verstorbenen aus diesen Wassern trinken, erkennen sie, dass ihr irdisches Leben unwiderbringlich vorüber ist. Dort müssen wir hin. Von da aus führt uns ein Portal zurück in den Gang."
Ich atme erleichtert auf. Diese Landzunge zu überqueren sollte jetzt nicht weiter schwer sein.
"Falls wir uns also noch einmal genauer hier umsehen wollen, können wir einfach hierher zurückkommen."
"Gut zu wissen", entgegne ich ihm. Aber das Rauschen des Wasserfalls schluckt den Großteil meiner Worte.
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Was könnte sich Dalerana gewünscht haben?
[Beim Schreiben hatte ich tatsächlich noch keine konkrete Idee, sondern nur eine vage Vorstellung von ihrem Wunsch. Vielleicht fällt euch noch was Besseres ein. Dann würde ich das bei der Überarbeitung sogar möglicherweise noch einmal abändern.]
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Brennende Feuer - Dunkle Schatten
FantasyAlles beginnt mit einer außerkörperlichen Erfahrung für Dalerana. Dann steigt die junge Frau hinab in das Reich des Todes, wo nichts mehr ist, wie es sein sollte. Eine Katastrophe droht, die Arbeit von Jahrtausenden in endlose Abgründe zu reißen. Au...