"Du musst uns also nicht nach unseren Namen und Geschlecht fragen, wie es deine Pflicht ist, Modgudur?", erkundigt sich Aljan.
Diese schaut milde lächelnd auf ihn herab und schüttelt den Kopf. "Das gilt nur für gewöhnliche Sterbende. Nicht jedoch für Euch. Folgt mir, ich bringe Euch zu Hel."
Sie zieht ihren Monsterhund an einem massiven Eisenhalsband bis zum Eingang einer Höhle gleich hinter dem Stamm der Eiche, wo sie ihn an eine lange Kette bindet. "Platz Garm", befiehlt Modgudur mit einer strengen Handgeste, woraufhin das Riesenvieh sich hinsetzt. Sie tätschelt ihm ein letztes Mal durch das schwarze Fell. "So ist's brav. Du bewachst in meiner Abwesenheit die Brücke."
Die Riesin führt uns noch ein Stück über die goldene Brücke, bis wir an deren Ende zu einem eisernen Zaun gelangen, der quer über den Weg verläuft. Sie steigt einfach darüber hinweg, aber Aljan und ich bleiben vor den vergitterten Streben stehen. Zu beiden Seiten mündet die Brücke auf felsig karges Land.
"Verzeiht, ich vergaß. Ihr müsst den Zaun überwinden, ehe Ihr durch Helgrind passieren könnt", entschuldigt sich die Riesin und zeigt nach rechts. "Dort hinten geht der Zaun in eine Hecke über, durch die ihr hindurchschlupfen könnt."
"Nicht nötig", erwidert Aljan und lässt sich einfach in die Höhe wachsen, bis er bequem darübersteigen kann. Für einen Moment stehe ich wie ein Kleinkind neben den zwei Giganten. Dann schließe ich die Augen und stelle mir vor, wie ich wachse.
Als ich die Augen öffne, bin ich ebenfalls auf Augenhöhe mit den beiden anderen.
"Ich sagte doch, Ihr seid keine gewöhnlichen Menschen", stellt Modgudur fest und wir folgen ihr einen steinigen Pfad entlang, bis wir vor Helgrind, dem Höllentor stehen.
"Hier ist alles für Riesen gemacht. Die germanische Schöpfungsgeschichte beginnt mit Ymir, dem Riesigen, müsst Ihr wissen, einem Urwesen aus der Ewigkeit."
"Riesen und Götter", nickt Aljan. "Auch wenn es den Anschein macht, wir hätten uns hinauf begeben, so sind wir nun unter den Wurzeln der großen Weltesche, an der Schwelle zu Nifelheim, dem Reich der Toten."
Modgudur nickt. "Unten ist oben. Als Hel vertrieben wurde, fand sie weit unterhalb ihr neues Zuhause in Utgaard, wo sie Helheim gründete. Hier herrscht sie mit ihrer Schwester Midgard, deren Atemzüge Ebbe und Flut, Saat und Ernte, Krieg und Frieden bedeuten und die Stunde von Geburt und Tod festlegen."
"Oben ist unten", bestätigt Aljan. "Die Krone bildet Asgaard, den Sitz der Götter. Der Stamm Midgard, die Erde der lebenden und sterblichen Wesen."
Und dann stehen wir vor dem Tor. Ich gestehe, dass ich im ersten Augenblick von dessen Schlichtheit enttäuscht bin. Helgrind ist ein Gatter aus Holz, genauer gesagt aus morschen Holzlatten, in die nordische Runensymbole geritzt sind. Mehr nicht. Nichts im Vergleich zu Rodins Höllentor. Dieses Holzgerippe steht mitten in der kargen Landschaft. Wie das letzte Übrigbleibsel eines alten, längst verödeten Gartens, dessen Umzäunung längst verfallen ist. Wie nutzlos und traurig ist ein Tor ohne Zaun?
Trotzdem greift Modgudur nach einem alten Riegel, der nirgendwo schließt, weil längst kein Pfosten mehr vorhanden ist, und wuchtet das Tor auf, damit wir passieren können.
"Willkommen im Nifelheim, dem Reich der Toten. Tretet über die Schwelle Fallandaforad, was fallende Gefahr bedeutet, zu Hels Heimstatt Eljudnir, Elend genannt."
Klingt wenig einladend. Ich schaue zu Aljan, aber er zuckt nur die Schultern. "Eljudnir ist ein widersprüchlicher Ort, so wie Hel selbst. Elend ihr Zuhause, ihr Tisch Hunger, ihr Messer Sultr, Verschmachtung, ihre Schwelle Fallandaforad, die fallende Gefahr, ihr Bett Kor, Sarg und ihr Bettvorhang, blinkendes Unheil. Hel ist kein Freudenpalast, sondern ein Ort des Exils."
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Brennende Feuer - Dunkle Schatten
FantasyAlles beginnt mit einer außerkörperlichen Erfahrung für Dalerana. Dann steigt die junge Frau hinab in das Reich des Todes, wo nichts mehr ist, wie es sein sollte. Eine Katastrophe droht, die Arbeit von Jahrtausenden in endlose Abgründe zu reißen. Au...