Nur noch ein Stück

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Links hinter dem Thron bogen wir nach rechts auf einen Gang.

Die Riesen gingen vor mir und umzingelten immer noch mein Trugbild. Eira, meine Mutter, lief an der Spitze mit schnellen Schritten, kraftvoll und bestimmt.

War sie wirklich meine Mutter? Seit Odin mir die Wahrheit über mich erzählt hatte, hatte ich die Gedanken an meine leiblichen Eltern immer verdrängt. Sie hatten mich nicht gewollt und ich wollte sie auch nicht. Weder ihre Liebe, noch ihre Nähe, nicht einmal ihre Namen wollte ich wissen. Odin und Frigga waren die einzigen Eltern für mich, die einzigen, die ich stolz machen wollte. Nachdem ich Laufey ermordet hatte, meinen Vater, hatte ich jeden kleinen Gedanken an meine biologischen Eltern zur Seite geschoben. Was hätte es auch gebracht? Schuldgefühle? Sehnsucht vielleicht? Konnte ich beides nicht gebrauchen.

Als ich Lilli gefunden hatte, kam in meinem Kopf schon die Frage auf, ob meine Mutter noch lebte. Ich hatte sie noch nie gesehen, wusste nicht, wer sie war, hatte keine Erinnerungen, gar nichts. Würde ich traurig sein, wenn sie tot war sowie Lilli um ihre Mutter getrauert hatte? Wahrscheinlich nicht. Vielleicht hätte ich um die vergeudete Zeit getrauert oder um die Dinge, die hätten sein können. Aber auch nur vielleicht.

Jetzt war nur nicht der passende Zeitpunkt sich mehr Gedanken darüber zu machen. Meine Tochter war in Gefahr, das sollte an erster Stelle in meinem Kopf stehen. Also konzentrierte ich mich voll und ganz auf meine Umgebung, die Riesen und auch Lilli.

Der Körper meiner Tochter verbrannte mir fast die Hände. Es war schon längst nicht mehr gesund so warm zu sein. War es Fieber? Irgendwie ja, irgendwie nein.

Bitte können die Riesen ihr helfen, flehte ich in Gedanken. Ich hatte keine Ahnung, was ich ohne Lilli machen sollte.

Wir bogen erneut um einige Ecken und schritten weiter fort durch Gestein und Eis. Plötzlich blieb Eira vor einer schweren Holztür stehen. Sie drehte sich um und betrachtete mein Trugbild noch einmal kritisch. Die Riesen gingen an ihr vorbei und öffneten die schweren Türen.

„Folgt mir", sagte sie, drehte sich erneut um und ging in den Raum. Mein Trugbild und ich selbst folgten ihr. Mit einer kurzen Handbewegung befahl sie den anderen Eisriesen draußen zu warten. Sie schlossen die Türen hinter mir, nachdem ich mich gerade noch hinein gequetscht hatte.

Der Raum, in dem ich nun stand, war riesig. Er hatte zu meinem Erstaunen ein Dach aus festem Eis, die Wände waren aus kaltem Stein mit einigen wenigen Fenstern. In der Mitte des Saals stand ein großer, breiter Tisch. Ich nahm an, es war eine Art Esstisch nur war allerlei Geschirr abgeräumt worden, weshalb er perfekt in das kahle, kalte Bild passte. Von der Decke hing ein monströser Kronleuchter aus Eis an dem Kerzen brannten. Auch an den Wänden hingen vereinzelt Fackeln, die den Raum erhellten.

„Das Eis ist so dick, dass die kleinen Flammen es nicht schmelzen können", bemerkte Eira nachdem sie meinen Blick gesehen hatte.

Interessant und logisch, dachte ich.

Lilli zuckte plötzlich ziemlich heftig in meinen Armen, was mich zurück in den ernst der Lage versetzte. Da mein Trugbild mich spiegelte, schauten wir nun beide besorgt in die Richtung der Riesin. Sie bemerkte es und wies auf den Tisch hin. Mit wenigen Schritten stand sie dann auch schon an eben diesem, doch wir folgten ihr nicht.

„Woher weiß ich, dass ich Euch vertrauen kann?", fragte mein Trugbild.

„Ihr habt keinen Grund es zu tun, doch Eurer Tochter läuft die Zeit davon. Sie wurde schwer verwundet und ein Splitter steckt in ihrer Lunge. Ihr Körper versucht sich zu wehren und zu heilen, doch allein ist er dazu nicht imstande", erklärte sie angestrengt weiter. Wir wussten beide, dass die Zeit, die wir mit reden verbrachten, nur verschwendet war, aber ich konnte ihr doch nicht einfach so meine Tochter anvertrauen. Möglicherweise war das alles nur eine Falle. Ich fürchtete nicht um mein Leben, aber Lillianias würde ich mit Sicherheit nicht so leichtsinnig aufs Spiel setzen. Doch würde sie überhaupt überleben können ohne die Hilfe der Eisriesen? Wenn ich jetzt zögerte, würde sie das ihr Leben kosten oder doch retten?

Daughter of a GodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt