Als ich fertig zurechtgemacht bin, sehe ich mich im Spiegel an. Ich finde mich hübsch, aber meine dunkelgrünen Augen sehen traurig aus. Hoffentlich ist das Abendessen schnell vorbei, damit ich mich wieder auf mein Zimmer zurückziehen kann.
Sarah führt mich zu einem Raum im Erdgeschoss. Wir bleiben aber vor der fast geschlossenen Tür stehen, da Sarah nicht eintreten darf. Hinter der Tür befindet sich der kleine Speisesaal, den ich ohne ihre Hilfe nicht mehr gefunden hätte. Bei der Rundführung wurden mir einfach zu viele Räume gezeigt.
»Guten Appetit«, wünscht mir Sarah und geht.
»Keine Ahnung, ob Orakel immer stimmen«, höre ich eine unbekannte Männerstimme durch die Tür dringen.
Dann höre ich ein Seufzen. »Wir werden sehen.« Milans Stimme.
»Wäre doch schön ...«, die Stimme verstummt als ich eintrete. Alle Augen liegen auf mir, was mich nervös macht. Vor allem Milans dunkelblaue Augen scheinen mich durchbohren zu wollen. Ich habe nichts getan, warum sollte er wütend sein? Ich knickse vor ihm, damit ich ihm Respekt zolle und sage: »Guten Abend, Milan.«
Es scheint ihn nicht zu kümmern, dass ich seinen Titel weglasse.
»Du kannst dort Platz nehmen und du musst nicht vor mir knicksen«, sagt Milan unterkühlt und weist auf den Stuhl zu seiner Rechten. Er selbst sitzt am Kopfende und mir gegenüber sitzt ein fremder Mann, der etwa so alt wie Milan sein muss. Er hat braune, kurze Haare und braune Augen.
Milans Worte überraschen mich. Ich dachte er würde so viel Wert auf Respekt und Etikette legen.
Der fremde Mann erhebt sich, verneigt sich höflich und sagt: »Ich darf mich vorstellen, ich bin Julian. Milans jüngerer Bruder.«
Ich neige meinen Kopf zum Gruß. Das ist also Julian. Ich habe ihn nicht wiedererkannt. Zu lange ist es her, dass sie bei uns waren. Zumal ich damals mehr auf Milan geachtet habe. Ich habe Milans Erscheinung schon immer unheimlich und faszinierend zugleich gefunden.
»Schön dich kennen zu lernen«, sage ich höflich.
Julian nimmt wieder Platz und fragt: »Amalia, schöner Name übrigens, ist dir jemals ein Orakel begegnet?«
Mir entgeht nicht, wie Milan seinen Bruder böse ansieht.
»Nein. Allerdings halte ich Orakel für einen Mythos. Eine Geschichte die man Kindern erzählt«, sage ich vorsichtig. Ich kann hoffentlich ehrlich sein, ohne die beiden zu verärgern.
»Ich kann dir versichern, dass es kein Mythos ist. Mir ist ein Orakel begegnet«, meint Milan, der darüber nicht erfreut zu sein scheint.
»Hat es dir keine guten Neuigkeiten gebracht?«, wage ich zu fragen. Ich bin mutiger, als ich es für möglich gehalten hätte. Anfangs habe ich gedacht, ich würde bei Milan kein Wort herausbringen, außer er fragt mich etwas.
Milan sieht mir ein paar Sekunden in die Augen, als würde er seine Antwort abwägen. »Ich weiß es noch nicht.«
»Dir wurde also keine glückliche Ehe mit meiner Schwester gezeigt?«, frage ich und klinge etwas zu frech. Mein Blick senkt sich auf die Tischplatte und ich mache mich für die Bestrafung bereit. Milan duldet es bestimmt nicht, dass man so mit ihm spricht.
»Nein«, sagt er grimmig. »Du solltest nicht so schadenfroh sein. Deine Schwester hätte es gut bei mir gehabt.«
»Sicher«, denke ich und schweige lieber, bevor ich etwas Falsches sage.
Eine Tür geht auf und Bedienstete kommen mit Essen hinein. Die Frauen tragen wie Sarah dunkelgraue Kleider mit runden Ausschnitten und einer weißen Schürze. Die Kleidung der Männer besteht aus dunkelgrauen Tuniken und dazu farblich passenden Hosen. Die Bediensteten platzieren die großen, silbernen Teller auf der Tafel und eine Frau bleibt bei Milan stehen. Der Rest verschwindet wieder hinter der Dienstbotentür.
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Licht und Dunkelheit
FantasyDiese Geschichte ist inspiriert durch die Sage von Hades und Persephone. Amalia ist die Tochter des Wettergottes Zoran, der König des Lichtreiches ist. Sie wird vom gefürchteten König Milan des Dunkelreiches entführt, da ihr Vater seinen Schwur gebr...