Unterwelt

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Ich nehme heute mein Mittagessen im Garten unter einem Pavillon ein, der mit Blauregen überwuchert ist. Es herrscht Dämmerung, die hellste Tageszeit hier im Dunkelreich. Der hellgraue Himmel ist von orange und lila Tönen durchzogen. Als ich Schritte näher kommen höre, schaue ich mich um. Milan schlendert durch den Garten geradewegs auf mich zu. Ich schlucke mein Essen hinunter und sehe ihn fragend an.

»Lust auf einen Ausflug?«, fragt er mich.

Vorfreude erfüllt mich. Endlich sehe ich mehr, als das Schloss und das Dorf.

»Wohin soll es gehen?«

»In die Unterwelt. Ich muss sowieso hin und nach dem Rechten sehen. Willst du mitkommen?«

»Gerne. Muss ich dabei etwas beachten?«

»Du musst ein schwarzes Kleid anziehen und zum Mond beten.«

»Okay«, sage ich und Milan muss lachen.

»Das war ein Scherz. Sei einfach leise, um die Totenruhe nicht zu stören. Und pass auf, dass du nicht in den Seelenfluss fällst. Ich kann dich nicht von den Toten zurückholen.«

Ich nicke und werde nervös. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal die Unterwelt vor meinem Tod betreten würde. »Gut, dann los. Ich bin fertig mit dem Essen.«

Vor dem Schloss steigen wir in Milans schwarze Kutsche. »Du musst keine Angst haben. Die Seelen werden dich vermutlich nicht angreifen.«

»Können sie das überhaupt?«, frage ich und bemerke, dass das Kribbeln länger nicht da ist.

»Ja, schon. Manche Seelen wehren sich gegen den Tod. Sie sind noch nicht bereit zum Sterben. Sie halten sich zum Beispiel am Flussbett fest. Aber sobald ich sie berühre, schwimmen sie weiter bis zur Gabelung bei der sich entscheidet in welchen Bereich sie kommen. Du darfst die Seelen auf keinen Fall berühren, sonst stirbst du. Nur ich kann das. Und der Fährmann, aber dazu später mehr.«

»Du hast bestimmt schon viel erlebt in deiner kurzen Zeit als Herrscher über die Unterwelt.«

»Schon, aber ich mag meine Arbeit. Mir ist es wichtig, dass die Seelen friedlich in die Unterwelt übergehen.«

Kurze Zeit später hält die Kutsche an. Als ich aussteige sehe ich, dass wir uns beim schwarzen Gebirge befinden. Eine Höhle führt in das Gestein hinein. Der Eingang hat die Form eines Totenschädels. Ich folge Milan in die Höhle, die von Fackeln mit blauem Feuer erleuchtet wird.

»Brennt das Feuer immer?«, frage ich.

»Ja, ich kann meine Magie für immer auf Dinge übertragen. Sie werden brennen, solange ich lebe.«

»Das ist bestimmt sehr schwierig und kostet viel Kraft bei der Erschaffung.«

Milan nickt und geht weiter. In der Höhle ist es viel kühler als draußen. Der Weg führt in eine große Höhle durch die der Seelenfluss fließt. Das Wasser wird durch die Seelen darin erleuchtet. Die Seelen, die vereinzelt vorbei schwimmen, leuchten in einem hellen Blau. Ich trete vorsichtig näher und bin fasziniert. Die Seelen sind ein schwaches Abbild der Menschen, zu denen sie mal gehört haben.

»Nicht so nah«, sagt Milan leise, der mich sanft an meinem Arm zurückzieht.

»Ich falle schon nicht herein«, flüstere ich.

»Das sagst du so einfach. Einige Seelen könnten nach dir greifen und dich hineinziehen, weil sie verzweifelt sind.«

Stimmt, da war ja was. Nun bekomme ich doch Angst und weiche nochmal ein Stück zurück. Milan schreitet am Fluss entlang und beobachtet die Seelen. Ich folge ihm. Wir kommen bei der Gabelung an, deren Abzweigungen in die dunkle Gesteinswand fließen. Viele Seelen nehmen den linken Weg, aber ein paar den rechten.

Licht und DunkelheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt