Kapitel 5 - Die Weltenchronik

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Angestrengt kämpfe ich mir den Weg aus dem Wald, zurück zum Palast. Das ein oder andere Mal stolpere ich über Wurzeln und Steine und falle aus Schwäche hin, wobei ich mir die Haut aufschürfe.
Als ich schon in der Nähe des Palastes bin, bemerke ich eine Person, die vor dem Tor auf und ab läuft. Es ist fast so, als würde sie auf jemanden warten.
Kaum komme ich näher, schon erkenne ich die Gestalt. Nachtschleicher, schallt es mir durch den Kopf mit dieser schlimmen Stimme aus der Höhle. Doch kaum denke ich das, schon scheint es, als würde er mich bemerkt haben. Vorsichtig kommt er auf mich zu. „Ach er ist also auch Mal da." Ich schaue verwirrt Mir ist nicht bewusst, dass wir schon einmal sprachen, denn schließlich sah ich ihn vorhin zum ersten Mal und just in diesem Moment zum Zweiten.
„Komm einfach mit. Du musst dir was anschauen." Meine Verwirrung setzt sich tiefer in mein Gesicht. Langsam kommt mir die Sprache wieder: „Du... Du dienst doch diesem Ding." Er schaut mich fragend an: „Welches Ding?"
Ich merke, dass er Unwissenheit vortäuscht
„Na das in der Höhle. Das was dir nachgerufen hat."
„Achso das." fängt er kichernd an. Das ist nur ein Freund von mir, der sich mit Bronzameisen angelegt hat. Furchtbare kleine Biester. Also", sagt er freundlich, „kommst du?
Er dreht sich schon langsam weg von mir und geht auf den Palast zu. Nur widerwillig folge ich ihm. Da kommt auch schon Zuckerschnäuzchen angerannt, die den Fremden sofort beschnupperte. Sichtlich eingeschüchtert schreckt er zusammen, fällt zu Boden und betet, dass ihm sein Leben verschont bleibe.
„Keine Sorge", sage ich und helfe ihm aufzustehen und sich von dem Dreck zu befreien.
„Bist du sicher?" Ängstlich geht er langsam weiter Richtung Haupteingang.
„Aber natürlich. Schau." Liebevoll streichle ich meine liebe Drachendame, während Nachtschleicher am Eingang angekommen ist, wo er auch schnurstracks die Tür öffnet.
Jetzt wo ich ihn so sehe, macht sich ein unwohles Gefühl in mir breit und verschafft mir leichte Bauchschmerzen.
Nichts anmerken lassen, denke ich mir, als wir durch die Haupttür in das Gebäude gehen, es wird schon bald weggehen.

Zielstrebig läuft er hinter die Treppe, wo er eine Tür öffnet. „Woher weißt du-"
„Das hier eine Tür ist?" Er beginnt zu lachen. Es ist ein Lachen, wie jemand lacht, der etwas zu verbergen hat.
„Aber das weiß doch jeder.", ergänzt er und schließt sie mit einer raschen Bewegung auf. Vorsichtig beuge ich mich vor, um an ihm vorbeizuschauen, was dahinter ist, doch ich sehe nichts außer einigen Treppenstufen, die in Schwarz zerlaufen. „Ach wie dümmlich von mir", sagt Nachtschleicher, als er bemerkt, dass es nichts zu sehen gibt. Er klingt schon fast eingebildet. Mit einem leichten Klatschen seiner Hände entfacht er Fackeln an der Wand, die die Treppen in Licht tauchen und eine Wendeltreppe zum Vorschein bringen. „Nach Ihnen.", spricht der Fischmensch, freundlich lächelnd. Mit einem misstrauischen Zögern gehe ich an ihm vorbei und einige Treppenstufen hinunter, bis ich eine Tür zu fallen höre. „Kurze Frage", hallt es dumpf durch die geschlossene Tür. „Dir würde es doch nicht auffallen, wenn, nun ja, sagen wir mal einige Pflanzen aus deinem Hof fehlen würden?", ein leises Lachen dringt durch die Tür, „Nein? Ach, dir würde es ja gar nicht auffallen können. Du musst ja erst einmal hier herauskommen."
Sein Lachen verrinnt und ich entbrenne in Wut, in welcher ich mich auch gleich gegen die Tür schmeiße, um sie zu öffnen, doch sie bleibt verschlossen. Ich höre noch leise Schritte, die langsam näher kommen, bis seine Stimme wieder durch die Tür hallt. „Wie unhöflich von mir.", sagt er heuchlerisch „Unten ist eine Bibliothek. Such einfach nach einem großen Buch in der Mitte derer. Übrigens:" fügt er singend hinzu und es hört sich nicht an, als würde er gleich damit aufhören, „Grüße von Lordilein." Er verstummt erneut und erneut schlage ich meine Fäuste gegen die Tür.
„Du hinterhältiges, falsches,", heiß flammt die Wut in meinen Augen, die in tiefblaue Trauer umschlägt, "dämliches... Es hat doch keinen Sinn", seufze ich und schaue in die Tiefen der Wendeltreppe. Ich habe wohl keine Wahl, denke ich mir und beginne den langen Weg hinunterzulaufen. Betrübt und voller Gedanken schleife ich mich die Treppen hinunter. Immer tiefer versinke ich in meinen Gedanken und vergesse alles um mich herum.
„Was erwartet mich da unten?", diese Frage fliegt mir immerzu im Kopf herum. „Nichts. Nichts.", schallt es aus jeder Ecke meiner Gedanken. „Aber was, wenn er die Wahrheit gesagt hat?", versuche ich optimistisch zu bleiben, doch rasch werde ich wieder von einem Gedanken unterbrochen.
„Hat er nicht. Macht er nicht. Lügner!"
Ein Ruck lässt mich aus meinen Gedanken fahren. Da sind keine Stufen mehr zu gehen, merke ich wohl auf. Ich bin unten angekommen.
„Endlich.", sage ich mir und das Echo hallt durch die schwarzen Flure. Ich klatsche kurz und es entzünden sich die Fackeln, wie bei Nachtschleichers Klatschen. Vor mir werden Gänge umrandet von Bücherregalen voller verstaubter Bücher mit Licht durchflutet. Es ist alles sehr alt. Spinnennetze hängen tief von der Decke durch die Flure und dicke Staubschichten begraben Buchleichen in toten Regalen. Vorsichtig nehme ich ein Buch aus einem Regal, das sofort zu knarren beginnt. Ich puste den Staub herunter und muss von jenem aufgewirbelten Staub niesen. Ein leises „Entschuldigung", entfleucht mir aus Gewohnheit und ich beginne den Titel zu lesen: „Immortusgesteine- Bindende Feinde"
Das klingt interessant, denke ich mir und behalte es in meiner Hand. Als ich einen zweiten Blick darauf warf viel mir der Name des Autors ins Auge: Saphira Juwel. Hastig greife ich nach einem und dann nach noch einem Buch. Immer wieder muss ich vom aufgewirbelten Staub niesen. Immer wieder entdecke ich den Namen Saphira Juwel. Bei einem weiteren stand, jedoch nicht dieser Name, sondern der ihrer Schwester Diamanti Juwel.
„Sie haben also geforscht. All die Jahre.", sage ich, während ich mir bewundernd die verstaubten Bücher anschaue. In den Einband eines Buches versunken, bemerke ich etwas Kleines am Ende des Ganges vor einem Sockel vorbeilaufend. Kurz zucke ich zusammen, bevor ich mich neugierig dahin begebe. Als ich näher komme bemerke ich ein großes Buch auf dem steinernen Sockel. Es ist noch zugeschlagen, verstaubt und der Titel nicht erkennbar. Ich schaue mich hastig um, um jedwede Überraschung vorzubeugen und fange an den Staub vom Buch herunter zu streichen. Hinter mir fällt ein Buch mit einem Knall aus dem Regal. Erschrocken drehe ich mich um und sehe eine Ratte vorbeilaufen.
„Dummes Vieh.", sage ich mürrisch und beginne den geschwungen geschriebenen Titel des Buches leise zu flüstern: „Die Weltenchronik"
Ich öffne die erste Seite und verfalle in Erschrecken. Das Buch wurde von Saphira und Diamanti geschrieben. Vor einhundert Jahren. Ich blättere eine Seite weiter und sehe nebenbei eine Widmung. Mit großer Mühe versuche ich diese zu entziffern. In ihr wird einem Jungen und seinem Hamster gedankt, der anscheinend das ganze Buch mit Bildern versehen hat. Sie zieht sich über einige Seiten. Mittlerweile verstehe ich, wieso das Buch so viele Seiten hat. Sie haben ihr ganzes restliches Leben dem Sammeln von Wissen gewidmet, so wie sie es für Gabro nur nebensächlich taten.
Als ich die erste richtige Seite öffne bemerke ich die Besonderheit des Buches. Es ist eine Geschichte, die sich selbst erzählt, denn Bilder beginnen sich zu bewegen und stellen zwei Personen dar. Es sind zwei bildhübsche Kinder, die zusammen in der Nähe eines Waldes spielen. Ich blättere weiter. Aus den beiden Kindern sind Jugendliche geworden. Sie trauern vor einer Gruft. Ein Priester kommt hinzu, der die beiden mit einer Geste segnet und sie für ihren Verlust bedauert. Er verweist sie auf ihre Pflicht das Erbe weiterzuführen und die beiden fangen mit Tränen in den Augen an sich zu streiten. Über beiden erscheint in verschnörkelter Schrift ihr Alter. Über dem einen steht, dass er von 17 Jahren ist, über dem anderen ebenfalls, jedoch mit einem Datum. Er ist der Ältere. Der Jüngere fängt an in Wut zu brennen und schlägt seinen sonst geliebten Bruder, wobei diesem ein Zahn herausgeschlagen wird. Ich zucke zusammen, da dieser in der Zeichnung aus dem Buch herausfliegt, glücklicherweise scheint es nur so. Blut fliegt dem Zahn hinterher. Der Ältere wendet sich von dem Jüngeren ab und verschwindet im Wald. Und da hört auch dieses Bild auf. Ich blättere eine Seite weiter. Hinter Büschen schleicht eine Person hervor ins Mondeslicht, wo zu erkennen ist, dass es der Jüngere der Beiden ist. Er sucht seinen Bruder. Eine Fledermaus fliegt am Mond vorbei und das Buch blättert von selbst um. Nun ist eine Klippe zusehen, an der der Ältere sitzt. Die Hände vor seinem Gesicht. Er scheint gekränkt und verzweifelt. Aus der vorderen Ecke des Bildes drängt sich eine weitere Person vor, die beobachtend stehen bleibt. Sie ist keine der beiden Brüder. Ich schaue näher hin. „Und wer bist du?" fällt es aus meinem Mund leise heraus, da erscheint auch schon der jüngere der Brüder, der sich an den Älteren anschleicht. Die dritte Person fängt an zu rufen, zu schreien und möchte den Älteren warnen, doch da ist es schon zu spät. Der Jüngere schubst seinen Bruder von der Klippe ins Meer. Die dritte Person schreit. Über ihr erscheint ein Schriftzug „Wieso?!" steht dort geschrieben. Die Person rennt aus ihrem Versteck heraus ins Mondlicht. „Nachtschleicher!", entfällt es mir überrascht. Er rennt zur Klippe und springt hinterher in die nassen Fluten. Das Buch blättert wieder von selbst. Die nächste Zeichnung färbt sich blau. Nachtschleicher taucht verzweifelt nach dem Älteren. Als er ihn gegriffen bekommt versucht er ihn herauszuziehen, doch er schafft es nicht. Der Jugendliche wird weiter nach unten gezogen. Aufgebend greift Nachtschleicher in eine seiner durch das Meer durchnässten Taschen, aus denen er eine Taschenuhr herauszieht. Aus den Fluten erscheinen Schriftzeichen:

Wertvolles, gegen Liebes.
Gegen den Willen des Diebes.
Komm auf die Welt zurück zu mir.
Löse dich von Tod und dir.

Das Wasser beginnt zu Brausen und wirbelt um denToten. Dieser beginnt kurz hell zu leuchten, doch beginnt im nächsten Momentdas Licht zu verschlucken. Zwei Strahlen schießen hervor, einer beinhaltetetwas dunkles, der andere den leblosen Körper, der in die Untiefen der Seeverschwindet. Vom Geschehen abgewendet taucht Nachtschleicher wieder auf unddas Buch blättert wieder von selbst. Zu sehen ist ein Turm und zwei Personenund wieder eine Schrift: „Die Zeit kann nichts ungeschehen machen."
Kaum geht das Bild weiter, schon schägt das Buch weitere Seiten um. Mir bekannteSituationen. Eine Person übernimmt einen Palast und freundet sich mit einemDiener an. Ein Jahr später hören die beiden etwas und der Diener macht sich andie Arbeit etwas zu bauen, währenddessen die andere Person mit einem kleinemSchoßdrachen spielt. Sie sind in der Küche und der Drache springt mit einerleichten Flamme aus seinem Mäulchen freudig herum, bis er in ein Fass vollZucker fällt, der dadurch karamellisiert. „Zuckerschnäuzchen" sage ich erfreutund begreifend, während der Name eben auf dem Blatt erscheint. Das Buch beginntschneller zu Blättern und ich sehe nur noch einzelne Bilder. Ein Zug, der ineine Schlucht fällt. Ein brennender Palast. Fenstergläser, die dieVergangenheit zeigen. Ein Treffen in Warington. Stadtbewohner, die umMitternacht auf zwanzig Uhr zurückversetzt werden. Die Uhr im Turm, die zuBruch geht. Ein Wesen aus Zahnrädern und Uhren als Augen, das aus dem Turmkriecht und alles in Bronze verwandelt. Und die Zwillinge, die mit einem Jungenflüchten. Das Buch blättert nun noch schneller und es ist nichts mehrerkennbar. Nach der letzten Seite fällt es mit einem lauten Knall zu.
„Und du hast es alles vergessen.", flüstert eine Stimme hinter mir. Ich drehemich um.

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