Kapitel 4 - Warington-Die Stadt der Zeit

11 3 0
                                    

Wir stürzten die Schlucht hinab. Ohrenbetäubendes, lautes Geschrei war zu hören und sonst nur der Wind, der scharf an uns vorbei glitt. „Zuckerschnäuzchen! Konzentrier' dich!", bat ich die Drachendame, während ich unser Ende immer näher kamen sah. Sie rappelte sich aus ihrem Schock heraus, schaute nach vorn, währenddessen breitete sie ihr Flügel aus und schwang sich hinauf zur anderen Seite der ehemaligen Brücke. Holprig landete sie und schaute uns so erschrocken an, als hätte sie gerade erst begriffen was genau passierte. „Ja da musst du aufpassen.", sprach ich ihr gut zu und legte mich flach auf ihren Rücken um ihr zu zeigen, dass ich bei ihr war. Sie schaute mich nur traurig. „Nein, ich bin nicht böse auf dich",meiner lieben Drachendame konnte ich einfach nicht böse sein, ich schaute nach hinten und sah, wie die Decke weiter herabstürzte. Die Bruchstelle kam immer näher auf uns zu. „Und jetzt", fing ich gemütlich an „LAUF!", rief ich dann aber auch schnell. Es klang so gehetzt, dass es mir im Nachhinein leid tat, doch sie schien es nicht so zu nehmen und rannte einfach schnaubend weiter.
Es vergingen weitere 10 Minuten hektischen Fliehens, doch endlich waren wir in einem Untergrundbahnhof angekommen, wo wir eine alte Lokomotive sahen. Es war nicht irgendeine Lokomotive, sondern eine solche wie ich sie mit den Wachen und den Jungen losgeschickt hatte. Als ich näher hinsah und mich sammelte, bemerkte ich, dass einige Waggons fehlten. Es ergab nun einen Sinn: Der Abgrund und die zerfallene, eingestürzte Brücke. ‚Nein', dachte ich, ‚nein das kann nicht sein.' Zuckerschnäuzchen stupste mich leicht an, womit sie mich aus meinen Gedanken riss. Eine der Wachen, die mit uns kamen, hakte mit einer Frage ein: „Euer Grafschaft?", er ließ einige Sekunden Pause um auf meine Antwort zu warten, die ich ihm nicht gab. Unbeirrt fuhr er fort: „Können wir weiter?" Ich konnte nicht einfach nicht sagen und so antwortete ich ihm sichtlich betrübt: „Natürlich.", ich ließ mir eine kleine Pause, in der ich versuchte alles zu verarbeiten, „Wir können weiter."
Weite, steinerne Stufen führten uns aus der bedrückenden Bahnstation heraus. Als das Licht am Ende der Treppe heller wurde und wir in der Welt über der Erde angekommen waren, erwartete uns bereits eine alte Festungsstadt. Auf den ewig müden Mauern und durch die sperrlich besuchten Straßen und Gassen gingen Wachen ihre Patrouille. Alte mittelalterliche Steingebäude begrenzten die Straßen und formten eine Stadt, in deren Mitte eine riesige Festung mit gusseisernen Toren stand. Die Festung wiederum umschloss einen Turm, in den eine riesige Uhr eingebaut war, die von überall in der Stadt betrachtet werden konnte. Die Uhr zeigte gerade zehn Minuten vor Zwölf und durch die Straßen huschten kleine, merkwürdige Wesen, die Zahnräder an sich trugen. Eines der Wesen schlich an uns vorbei und ich hörte es noch sagen: „Tick tack. Zeit läuft ab. Tick tack. Noch zehn Minuten. Tick tack. Tick tack." Meine Wachen schauten ihm noch verwundert hinterher. Bis aus dem obersten Geschoss eines Gebäudes Rufe erklangen: „Sekunde! SEKUNDE! Komm! Uns bleibt nicht viel Zeit." Gefolgt von einem dumpfen und langsamen: „Tick. Tick. Tack."
„Graf?" fragte eine Wache und schaute sich neugierig um, „Wo sind wir hier?"
Ich begann zu lächeln, denn ich wusste wie merkwürdig mir diese Stadt vorkam als ich das erste Mal hier war. Ich hatte damals nicht minder merkwürdig geschaut. „Warington. Die Stadt der Zeit. Nie Morgen, der Mittag vergangen und im Abend gefangen.", antwortete ich ihm. Wenn er wüsste was das bedeuten sollte. Ich war mir aber sicher, dass er es noch früh genug mitbekommen würde. „Und was machen wir hier?", fragte er mich noch leise, während ein kleiner mechanischer Vogel an uns vorbei flog. Fragend sah ich ihn an, denn ich dachte, dass es schon offensichtlich war, weshalb wir diese Reise hier überhaupt angingen: „Was wir hier machen?", er nickte zustimmend , „Wir- wir fliehen natürlich." sagte ich laut und ergänzte leise: „Und statten nebenbei der Zeit einen Besuch ab." Doch die Wache hörte es nicht und es war vielleicht auch besser so, denn was sollte er auch mit dieser Information anfangen können.
So gingen wir weiter durch die Straßen. Seit unserer Ankunft stand der Mond schon hell am Himmel, nur die Straßen laternen schienen heller mit ihrem warmen Licht. Die Stadt der Zeit war nicht nur wegen ihren Bewohner äußerst verwunderlich, denn der helle Mond stand seit 7 Minuten an der selben Stelle. Er regte sich nicht vom Fleck und es fehlten nur noch 2 Minuten bis Mitternacht. Mit jeder Bewegung des Sekundenzeigers, der der Zwölf näher kam, wurde die Stadt immer hektischer. Immer mehr Sekunden, so zumindest dachte ich mir sollte man die wunderlichen Bewohner der Stadt nennen, schlichen auf den Straßen herum. Einige rannten aus der Stadt, es schien als wollten sie fliehen, doch als die Uhr Mitternacht schlug, sprang der Stundenzeiger ruckartig auf 8 Uhr abends zurück und die Sekunden wurden zurückgesetzt. Schlagartig kehrte Ruhe wieder ein.
Die Wachen schauten sich gegenseitig fragend an. Sie schienen nicht zu wissen, was hier passierte. „Was? Noch nie eine Zeitumstellung erlebt?", fragte ich sieh belustigt. „Kommt wir müssen weiter." Und so gingen wir weiter durch die Straßen von Warington. In jeder Fensterscheibe eines jeden Hauses spiegelte sich ein bewegtes Bild der Vergangenheit. Stundenlang irrten wir durch die Straßen und sahen viele Bilder aus der Vergangenheit in den zerbrechlichen Fenstern. Meine liebe Drachendame, Zuckerschnäuzchen, gab sich besonders viel Mühe nichts durch hastige Bewegungen zu zerstören.
Einige Zeit später blieb ich stehen und starrte gebannt in eines dieser Fenster. Dort sah ich einen Zug und an dem Triebwagen standen zwei Wachen, die zu rufen schienen. Und da war auch der Junge. Zwischen dem Treibwagen und einem Waggon klaffte eine größer werdende Lücke. Die Wachen riefen dem Jungen zu. Sie wedelten mit ihren Armen. Hinter dem Zug sah ich, wie die Brücke einbrach. „Die Brücke, an der es mürbe roch.", fielen meine Gedanken schreiend ein. Ein Waggon glitt schon in den Abgrund und Ketten rissen. Die anderen Waggons fuhren noch, doch die Wachen schienen lauter zu rufen, bis der Junge schließlich sprang.

GrapuloreWo Geschichten leben. Entdecke jetzt