Kapitel 107

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POV Toni:

„Henry?" fragte ich leise. Ich hielt seine Hand in meiner. Mama ist weg. Operation haben die Ärzte gesagt. Die Ärzte wissen nicht was passiert ist. Sie wissen nicht ob sie etwas tun können. Sie wissen nichts. Wir wissen nichts. Wir sitzen hier und sind zum Warten verdammt. „Henry?" fragte ich nochmal an meinen großen Bruder gerichtet. Er starrte nach unten. Taten alle. Anscheinend so ein erwachsenen Ding. Alle starrten nach unten. Papa, Henry, Tommy auch, obwohl er noch gar nicht so erwachsen ist. Er ist vierzehn, verhält sich, aber anders. Und er behauptet er wäre erwachsen. Immer wieder. Henry ist achtzehn. Erst seit letztem Monat. Er geht zur Bundeswehr. Das hatte er uns Letze Woche gesagt. Er will unbedingt da hin. Er sagte es wäre gefährlich dort. Aber er will es trotzdem machen. Was komisch ist. Warum will er da hin, wenn es doch gefährlich ist? Ich will ihn nicht verlieren. Ich brauche ihn noch. Meinen großen Bruder. Mein Held, mein Fels in der Flut, oder so ähnlich heißt das. Er ist doch mein großer Bruder.
Er schaute zu mir. Seine Augen waren rot. Und nasse Spuren waren auf seinen Wangen zu sehen. Er schaute besorgt oder traurig. Er war auf jeden Fall traurig. Wie ich. Was passiert mit Mama? Wird sie jetzt doch sterben? „Henry...", ich flüsterte kraftlos seinen Namen. „Toni...", er nahm meine Hand. Ganz fest in seine. Seine große warme Hand in meiner kleinen kalten. Ich habe immer kalte Hände. Er hat immer warme. Seine Hand gibt mir Kraft. Er gibt mir Kraft. Und dann will er weggehen? Dahin wo es gefährlich ist? Wird er dann auch sterben? So wie Oma und Opa? So wie Mama, die heute jetzt vielleicht auch stirbt? Was soll ich dann machen? Ohne ihn? Ohne Mama? Was passiert dann mit Tommy? Er kann nicht ohne Henry. Genau wie ich. Er hält uns zusammen. Und er passt immer auf uns auf. Er darf auch Auto fahren. Einmal ist er heimlich mit dem Auto von Mama und Papa zum Laden gefahren und hat uns ganz viele Süßigkeiten gekauft. Als Mama und Papa im Krankenhaus waren. Und dann haben wir alle zusammen einen Film geguckt im Wohnzimmer. Bis ganz tief in die Nacht. Auch wenn wir das eigentlich nicht durften und am nächsten Tag war Schule. Aber Henry hat auf uns aufgepasst. Und das kann er nicht mehr machen wenn er weg ist. Wenn er auch in den Himmel kommt wie Oma und Opa.

Ich wartete wie damals. Doch diesmal war Henry nicht hier, diesmal wartete ich auf Henry. Ich nahm Tommys Hand. „Ich habe Angst.", meine Stimme war etwas mehr als ein Hauch doch er verstand es, drückte meine Hand und drückte mich noch mehr an mich. „Wer hat die Zwillinge?", fragte ich schließlich. „Die Babysitterin ist da.", beruhigte er mich. Er strich weiter meinen Rücken herunter. „Er wird nicht wie Mama nicht wieder kommen.", meinte er leise. „Das kannst du nicht wissen.", widersprach ich störrisch. Er konnte es nicht wissen. Niemand konnte es wissen.

Es war wahrscheinlich eine Stunde vergangen, als eine Schwester Tommys Namen rief. Wir standen auf und gingen auf die Schwester zu. Mein Herz klopfte bis zum Hals, meine Hände fühlten sich eiskalt und schwitzig zugleich an. Mein Hals wirkte wie ausgetrocknet.
Was würde mich gleich erwarten? In welchem Zustand würde er sein? Wäre er wach oder bewusstlos? Oder etwas Schlimmeres?
Mein Kopf platzte beinahe vor Fragen auf die ich keine Antwort hatte. Wir wurden zu einem Stück Flur geführt in dem Betten standen. Ich erkannte den blonden Wuschelkopf beinahe sofort. Er lag auf der Krankenhausliege, er trug eine Tarnhose und ein grünes Shirt. Am Kopf hatte er ein großes weißes Pflaster, das sich stark von seiner gebräunten Haut abhob. Um seinen Arm war ein Verband gewickelt. Er hatte tiefe Augenringe und er sah wirklich fertig aus.
Tommy hatte sich sofort zu ihm begeben und lag nun in seinen Armen. Ich vernahm nicht mehr als ein murmeln. Er löste sich schließlich von ihm und Henrys gerötete Augen schauten zu mir. Ich fiel ihm in die Arme und heulte. „Ich hab dich vermisst.", stammelte ich. „Ich dich auch, Toni. Ich dich auch.", er weinte leise und langsam löste ich mich von ihm. „Was ist mit dir passiert?" „Ich wurde angeschossen. Das wurde auch alles behandelt, deshalb konnte ich nicht sagen wann ich zurück kann.", ich hatte es gewusst. Er war verletzt und deshalb konnte er nichts Genaues sagen. „Doch der Doc hatte mir erlaubt herzufliegen. Jedoch wurde mir am Flughafen plötzlich schwindlig und ich wurde hergebracht. Sie haben jetzt noch einmal Untersuchungen angesetzt. Es wird nichts schlimmes sein. Macht euch keine Sorgen.", erklärte er. „Keine Sorgen machen, wenn du hier rumliegst. Kannst du vergessen.", meinte Tommy und ich stimmte ihm zu. Ich machte mir permanent Sorgen.

Tatsächlich sollte Henry recht behalten, es waren Untersuchungen wegen seines Schwindels. Die Ärzte fanden heraus, dass ihm so schwindelig war, weil sein Körper wahrscheinlich wegen der Flugbedingungen überfordert gewesen ist. Er durfte wieder gehen. Und zusammen fuhren wir allesamt in die WG. Dort würde Henry erst einmal bleiben. Es hatten sich alle sofort mit ihm verstanden und auch Lina, die ihn schon kannte war sehr froh, dass er wieder da war. Er verstand sich zum Glück auch sehr gut mit Alex und den andern.

Er war endlich wieder Zuhause.

New Life - Ein Neuanfang (ASDS)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt