Kapitel 9

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War sie tot? Anastasia fühlte immer noch stechende Schmerzen in ihren Venen. Ihr Blut schien durch Weihwasser ersetzt wurden zu sein.

Anastasia musste an die Geschichte von Kain und Abel denken. Denn auch wenn Gott alles tat, um Kain für den Mord an seinen Bruder zu bestrafen, überlebte er. Seine Schwächen wurden zu seiner Stärke und letztendlich erschuf er sie. All die Vampire stammten von ihm ab und waren die Nachfolgen.

Es war in diesem Moment, in dem Anastasia sich fragte, ob auch sie stark war. Sie fragte sich, ob es vielleicht Hoffnung gab und es irgendjemanden gab, der ihr froh gesinnte war.

Das Brennen in ihren Venen wurde langsam schwächer und auch die Schmerzen schienen sich zurück zu ziehen.

So musste es Vater gehen, dachte sie sich. Genau wie er schien sie in einem übernatürlichen Koma zu liegen und genau deswegen wusste sie, dass sie nicht erwachen würde.

Sie realisierte, dass das war grausamer als jeder Tod. Sie konnte denken und fühlen. Sie konnte atmen und sie war lebendig. Zu mindestens war sie so lebendig, wie es ein Vampir eben sein konnte. Doch all die Freuden des Lebens konnte sie nicht erleben.

Wie Isaak so oft sagte, war sie schon tot. Doch ihr Körper schien noch vollends lebendig zu sein. Denn wenn sie eine Seele hatte, dann musste diese schon lange ihren Körper verlassen haben.

„Es tut mir leid. Ich dachte wirklich, dass ich euch helfen kann."

Die Stimme klang dumpf in Anastasias Kopf. Fremd war sie ihr zudem.

Doch dass sie hören konnte, hieß, dass sie noch hier war. Noch hatte ihr Geist diesen Planeten nicht verlassen. In all den Jahren hatte sie sich so viel Wissen über die unterschiedlichsten Kulturen angelesen und das war ihr nie wirklich eine Hilfe gewesen.

Aber jetzt gerade betete sie zu all den Göttern die existieren sollten. Sie wusste nicht, ob sie sie hören würden. Sie war sich ja nicht einmal sicher, ob es sie überhaupt gab. Aber Anastasia wusste, dass es irgendjemanden gab, der auf sie schauen musste. Wer sagte ihr, dass all die Götter nicht real waren, wenn es doch Vampire, Werwölfe und all die anderen Wesen gab.

Das war es, was sie hoffen ließ. Denn wenn sie jetzt keine Hoffnung hatte, was sollte sie dann tun?

Stunden schienen vergangen. Anastasia gab aber nicht auf. Sie kämpfte und betete. Ihre Brüder mussten da draußen sein und schon alle Hoffnung verloren haben, doch sie war noch nicht bereit einfach so zu gehen. Denn wer wäre sie, wenn sie sich von einem halbblütigen Mann unterkriegen lassen würde.

Auf einmal spürte sie es. Als hätte der Gedanke an ihren Gefährten etwas verändert. Plötzlich raste etwas durch ihren Körper. Es war als würden tausend Blitze zucken und Anastasias Seele zurück in ihren Körper ziehen.

Sie erfasste ein Strudel lauter Gefühle. Gedanken an ihr erstes Treffen mit Keno rauschten durch ihren Kopf und es war, als würde sie ihn direkt vor sich sehen. Sie konnte sich perfekt an die goldenen Augen erinnern, die sie so emotionslos und doch so sehnsüchtig anstarrten. Die Art wie sein spitzes Kinn etwas zuckte und wie er sie angesehen hatte. All das rauschte an Anastasia vorbei, schien sie ertränken zu wollen. Doch dieses Mal blieb sie stark. Viel zu oft hatte sie in ihrem Leben schreien wollen und jetzt tat sie es.

Sie schrie in ihrem Kopf und ließ sich auf den Schmerz ein, der all die Erinnerungen aus ihr ziehen wollte. Sie ließ sich nicht darauf ein, weil sie es wollte. Es war wie eine Macht, die ihren Körper übernahm und sie steuerte.

Diese Macht vollbrachte etwas Unmögliches.

Anastasia hatte nicht gewusst, dass so etwas ging, doch als sie ihre Augen aufschlug, fühlte sie nichts mehr bei dem Gedanken an Kenos Namen.

Nachtgeflüster - Der zersplitterte KontinentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt