Kapitel 23

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Langsam verschwand das taube Gefühl und Anastasia bewegte vorsichtig ihre Fingerspitzen. Sie griffen in etwas Nasses, das sie als Gras identifizierte. Auf dem Boden zu liegen schien neuerdings eine ihrer Gewohnheiten zu werden. Sie rührte sich etwas. Ihr Körper schmerzte dabei und sie spürte, dass ihr Nacken sich ungewöhnlich steif anfühlte. Also versuchte sie vorsichtig ihre Augen aufzuschlagen.

Grelles Licht schien ihr entgegen, weshalb sie kurz blinzelte, um sich daran zu gewöhnen. Ungewöhnlich steif setzte sie sich auf.

Ihre Hände stellte sie hinter ihrem Rücken auf, um sich abzustützen, während sie ihren Blick schweifen ließ. Als sie den inzwischen vertrauten Wald erkannte, stöhnte sie auf. Wie sehr hätte sie sich gewünscht, dass all dies nur ein Traum war. Sie vermisste Alex, der jetzt bestimmt eine Idee gehabt hätte, was zu tun war. Dann hätte Isaak einen Spruch gebracht, der ihren Bruder auf die Palme bringt, weshalb die Beiden sich gestritten hätten. Sie selbst hätte daneben gestanden und versucht zu schlichten. Doch statt ihre Brüder zu hören, erklangen Schritte. Anastasia sprang auf.

Blitzschnell stand sie auf den Beinen, die noch etwas wackelig waren, weshalb sie schwankte. Ihre Hände zitterten, als sie sie zu Fäusten ballte. Kampfbereit fixierte sie einen der Büsche vor ihr, die den Blick auf einen verstecken Waldweg freigaben. Anastasia kniff die Augen zusammen.

„Schön. Du bist von den Toten auferstanden.", begrüßte sie jemand.

Kurz raschelte das Dickicht und dann gab es den Blick auf einen jungen Mann frei.

Die hellblonden Haare hatte er in einem kleinen Zopf im Nacken zusammengefasst. Dadurch wurden seine markanten Gesichtszüge geradezu herausragend betont, wie Anastasia fand.

Freundlich, wenn auch etwas verhalten, lächelte er sie an. Doch Anastasia konnte es nicht erwidern. Ihr wurde schlecht, als sie den fremden Mann auch nur ansah. Etwas in ihrem Inneren schrie ihr zu, dass sie sich von ihm entfernen sollte. Sie hielt Inne. Das letzte Mal war er sehr zuvorkommend gewesen, weshalb sie nicht verstand, dass sie jetzt möglichst weit von ihm wegkommen wollte.

„Ich muss um Verzeihung bitte. Mein voriges Benehmen ist beschämend. Ich war nicht mit der Absicht gekommen, dir einen Genickbruch zuzuführen. Aber", Henry hob einen kleinen hölzernen Becher in die Luft, „ich habe dir eine kleine Stärkung mitgebracht. Nach einer derartigen Regeneration kannst du sehr gut Blut gebrauchen."

Anastasia zog die Augenbrauen kraus. Sie spürte ein Stechen im Kopf als sie über die Ereignisse der letzten Stunden nachdachte. Doch da fiel es ihr ein.

Sie wollte Keno, ihren vom Schicksal bestimmten Gefährten, ablehnen, um zu ihrer Familie und Leander zurückzukehren. Doch noch bevor sie das Ritual vollziehen konnte, war sie außer Gefecht gesetzt wurden.

Ein leises Räuspern ließ sie hochschrecken. Henry stand inzwischen vor ihr und hielt ihr den kleinen Becher entgegen, in dem sich das köstliche Blut befand. Anastasia zögerte nicht lange. Ihr Hals kratzte und sie konnte spüren, dass ihr innerer Vampir nach der roten Flüssigkeit lechzte. Sie war förmlich am Verdursten.

Als sie Henry den Becher aus der Hand nahm, streiften ihre Fingerspitzen kurzzeitig seine Hand. Schnell zog Anastasia sich zurück und funkelte ihn misstrauisch an. Sie wollte Henry nicht berühren. Es wäre Verrat Henry nahe zu sein, so lange noch nicht allen bewusst war, zu wem sie gehörte.

Anastasia riss die Augen auf und das Getränk glitt aus ihren Händen. Mit einem dumpfen Aufprall landete das Gefäß auf dem Boden und das Blut tränkte das grüne Gras.

Ungläubig schüttelte Anastasia ihren Kopf. Dieser Gedanke kam nicht von irgendwo her. Sie konnte genau sagen, was gerade passierte. Alles in ihr verlangte nach ihrem Gefährten.

Nachtgeflüster - Der zersplitterte KontinentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt