Kapitel 22 Teil 1

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Kenshin führte Anna in den kaiserlichen Garten, die frische Luft tat ihm gut. Sie spazierten beide schweigend nebeneinander, während Anna entzückt den Garten bewunderte. Kenshin beobachtete sie, wie er es bereits beim Shooting getan hatte. Sie faszinierte ihn, wie es noch keine Frau getan hatte und er verfluchte sich selbst dafür. Ausgerechnet die Verlobte des Mannes, den er zu seiner Familie zählte. Er freute sich für Bors, keine Frage, wie konnte er sich für seinen Freund nicht freuen? Schliesslich hatte er Bors noch nie so glücklich gesehen. Wieso also konnte er nicht aufhören sie anzuschauen? Er konnte kaum den Blick von ihr abwenden, aber tat er dies nicht bei jedem Menschen?
„Schau den Menschen ins Gesicht Kenshin, schau genau hin! Beobachte ihn. Nimm jede Mimik wahr, so wirst du immer wissen was für ein Mensch vor dir steht und was er gerade empfindet.", hatte sein Vater immer wieder gesagt. Das hatte sich Kenshin zu Herzen genommen und er war nun fähig, in den Gesichtern der Menschen zu lesen, fast wie in einem Buch. Nur bei zweien konnte er es nicht. Bei Bors und Annalia. Bors hatte er nie anders gekannt, seine Augen strahlten oft für alle Gefühle gleich, bei seiner Mimik war es auch nicht anders. Bei Annalia war es anders, sie hatte meistens einen neutralen Gesichtsausdruck, als ob sie keine Gefühle empfand. Bei seiner ersten Begegnung mit ihr, konnte er ein paar Mal Angst bei ihr erkennen, die jedes Mal rasch wieder verschwand, sodass er zuerst dachte er würde sich das einbilden. Dann hatte er Wut gesehen, als er ihr sagte, dass ihre Kinder niemals Duke sein würden, was ihn sehr erleichtert hatte, so wusste er, dass Anna nicht auf Bors Geld und Titel scharf war. Aber was ihm am meisten auffiel, am selben Abend, war die Kontrolle, ihre Gefühle zu verstecken. Erst nachdem sie mit Bors getanzt hatte, hatte er bemerkt wie sich die beiden liebten. Jetzt konnte er kaum aus ihrem Gesicht lesen, ihre stets neutrale Mimik machte es ihm schwer, irgendein Gefühl zu erkennen, genauso ihre Augen. Wenn sie Gefühle zeigte, zeigte sie es offensichtlich, sodass ihn das Gefühl beschlich, sie zeige nicht was sie wirklich empfinde. Was Kenshin sehr irritierte, doch das war nicht der einzige Grund, wieso er den Blick nicht von ihr abwenden konnte. Er konnte nicht abstreiten, wie schön sie war und dass er sich zu ihr hingezogen fühlte. Aber am meisten mochte er, dass sie oft vergass, dass er ein Kaiser war. Ihr loses Mundwerk amüsierte ihn köstlich.
„Ihr habt einen wunderschönen Garten.", riss Anna ihn aus seinen Gedanken.
„Vielen Dank. Schön, dass er Ihnen gefällt.", meinte Kenshin lächelnd, er schaute sie von der Seite an, während sie langsam durch den Garten gingen.
„Ich muss mich bei Ihnen bedanken.", fing Anna an. „Danke, dass Ihr alles organisiert habt. Das Shooting war einfach wunderbar. Ich glaube nur nicht, dass ich es bezahlen kann."
„Macht Euch darüber keine Sorgen, ausserdem muss ich mich bei Ihnen bedanken.", sagte Kenshin ernst.
„Wieso müssen Sie sich bei mir bedanken?", fragte Anna überrascht.
„Weil Sie... ach verflixt nochmal, lassen wir diese Höflichkeitsfloskel!", sagte Kenshin unwirsch und stellte sich vor Anna hin. Überrascht hielt sie an und schaute ihm direkt in die Augen. Ihre braunen Augen funkelten kurz Unsicherheit, ansonsten konnte er mal wieder nichts erkennen.
„Das Shooting ist mein Weihnachtsgeschenk für dich Annalia.", sagte Kenshin. „Sowie jedes Kleid das du getragen hast."
Anna riss die Augen auf.
„Ich danke Ihnen vielmals.", sagte Anna leise. „Aber das ist viel zu viel. Ich habe nicht einmal ein Geschenk für Sie."
Sie ging an ihm vorbei, um weiterzulaufen. Kenshin ärgerte es, dass sie ihn immer noch in der Höflichkeitsform ansprach, obwohl er gerade das du angeboten hatte. Was ihn aber am meisten ärgerte war, dass sie es tat, um den Abstand zu wahren, was er gerade versucht hatte zu überbrücken.
„Du hast mir bereits etwas geschenkt.", sagte Kenshin laut. Anna blieb stehen, drehte sich zu ihm um und schaute verwirrt drein.
„Was soll ich euch geschenkt haben?", fragte sie unsicher. Kenshin lächelte sanft, ging auf sie zu und blieb vor ihr stehen.
„Mehr Zeit mit meiner Familie."
Kenshin sah, dass sie nicht verstand, also setzte er fort.
„Du hast Bors gerettet. Du hast Stevens Vater, meinen Freund, der für mich wie ein Onkel ist, nicht sterben lassen. Und als du hättest sterben können, hast du nicht aufgegeben, sondern gekämpft um zu Leben. Als ob du wusstest, dass Bors ohne dich nicht mehr leben kann."
Während er sprach, spiegelte sich auf Annas Gesicht Fassungslosigkeit und Entrüstung wider, doch kaum hatte er es erfasst, verschwand es hinter ihrer neutralen Maske.
„Kein Geld der Welt wird jemals Dank genug sein Annalia, deswegen bitte ich dich, mein Geschenk und mich als deinen Freund anzunehmen.", sagte Kenshin leise und schaute ihr in die Augen. „Ausserdem wirst du kein schöneres Kleid finden, das besser zum Kaiserhofball passt."
Anna lächelte schwach und kurz, sie liess sich Zeit oder hatte Kenshin das Gefühl, dass sie so lange brauchte? Er wollte, dass sie annahm, er wollte ihr näher kommen, obwohl er wusste, dass es besser wäre ihr fernzubleiben. Aber irgendwie konnte er nicht anders. Er wollte, dass sie wusste, dass sie in ihm einen Freund hatte, der sie unterstützte und wenn es sein musste auch beschützte.
„Na gut, ich nehme dein Geschenk an und es wäre mir eine Freude, dich zu meinen Freunden zählen zu dürfen.", antwortete Anna, nach einer gefühlten Ewigkeit und Kenshin lächelte, da Anna endlich die Höflichkeitsform ausliess. „Aber nur unter einer Bedingung."
„Man stellt einem Kaiser keine Bedingung, Annalia.", sagte Kenshin scharf, aber leise.
„Trotzdem tue ich es.", meinte sie und reckte ihr Kinn trotzig in die Höhe. „Ich will, dass du mich Anna nennst."
Kenshin hob amüsiert die Augenbrauen, das war ihre Bedingung?
„Wieso, das denn? Annalia ist ein wunderschöner Name."
Wut flackerte kurz in ihren Augen auf, doch dann lächelte sie.
„Meine Freunde nennen mich so."
„Wenn das so ist, nehme ich deine Bedingung an, Anna.", meinte Kenshin leise. Sie setzten den Spaziergang fort und Kenshin dachte nach, weshalb Anna kurz wütend geworden war. Eine andere Frage beschäftigte ihn aber schon länger.
„Anna, ich würde dir gerne etwas über deine Verletzung fragen."
Anna blieb stehen, Kenshin ebenfalls, sie schaute ihn an, doch er konnte keine Gefühle erkennen.
„Was willst du wissen?", fragte sie leise.
„Ich weiss, dass du mit einem Kleinkaliber angeschossen wurdest, deine Wunde ist aber sehr gross.", begann Kenshin vorsichtig. „Der Attentäter muss euch nah gewesen sein."
„Das ist keine Frage, sondern eine Feststellung und ich erinnere mich nicht mehr.", meinte Anna, doch er merkte, dass sie ihm auswich.
„Dann werde ich meine Feststellung ein bisschen verdeutlichen.", sagte Kenshin mit fester Stimme. „Der Attentäter war euch beiden nah und zwar sehr nah! Kein Kleinkaliber verursacht von weitem eine solche Wunde wie du sie hast."
Kenshin beobachtete ihre Reaktion genau, so konnte er sehen, dass sie bleicher wurde und leichte Panik in ihre Augen stieg.
„Was ist genau passiert Anna?", fragte Kenshin besorgt leise. Anna blickte weg und biss sich auf die Unterlippe, sie wollte gerade antworten als sie Bors Stimme hörten.
„Da seid ihr endlich!"
Beide blickten zu Bors, der noch ein paar Meter von ihnen entfernt war. Anna ging schnell auf ihn zu und Kenshin lief langsam hinterher, damit er ein bisschen Zeit zum Nachdenken hatte. Was war genau passiert an diesem Tag? Was verheimlichte ihm Bors? Anna war in Bors Armen, während sie sich küssten und irgendwie störte es ihn.
„Guten Tag Bors oder soll ich noch einen guten Morgen wünschen?", fragte Kenshin lächelnd, obwohl es ihm nicht danach war.
„Guten Tag ist in Ordnung, bin schon länger wach. Ich war noch kurz in der Innenstadt", meinte Bors lächelnd. Natürlich wusste das Kenshin, Kanaye hatte berichtet, dass Bors weggegangen sei.
„Ihr seid schon lange am Spazieren, es ist schon bald drei Uhr nachmittags.", bemerkte Bors und schaute Anna liebevoll an.
„Nun, es ist wirklich ein sehr grosser Palast und Garten, ausserdem laufen wir sehr gemütlich wegen meiner Verletzung.", sagte Anna und lächelte ihn an.
„Ich begleite euch bei der restlichen Führung.", beschloss Bors.
„Sehr gerne Bors.", sagte Kenshin lächelnd, war aber leicht verärgert, dass er mitkam. Wieso wusste er selbst nicht so genau.
„Ich glaube für mich ist es genug. Ich werde mich eine kurze Zeit ausruhen, vor dem Abendessen. Ihr entschuldigt mich.", sagte Anna leicht müde, noch bevor Bors was sagen konnte, küsste sie ihn und lief zum Palast zurück. Bors schaute ihr nachdenklich nach, vielleicht auch ein wenig besorgt, so beurteilte Kenshin Bors Gesichtsausdruck.
„Alles in Ordnung Bors?", fragte er deshalb nach.
„Ich weiss nicht.", antwortete Bors und schaute immer noch Anna hinterher. „Ich glaube, sie entgleitet mir."
„Annalia? Nein, das denke ich nicht.", antwortete Kenshin ehrlich. „Wieso glaubst du das?"
„Es ist nur ein Gefühl.", meinte Bors und schaute ihn an. Es war das zweite Mal, dass Kenshin Bors so niedergeschlagen sah. Das erste Mal war drei Tage nach dem Anschlag, wobei Bors dort eher wie ein Häufchen Elend war als nur ein wenig niedergeschlagen.
„Gefühle können trügen, mein Freund. Ich glaube nicht, dass es der Fall ist, sie liebt dich.", versicherte Kenshin ihn, denn dieses Gefühl hatte Kenshin bei Anna gesehen. Weshalb hätte sie für Bors sich sonst so viel Mühe gegeben, um ihm ein Weihnachtsgeschenk zu besorgen? Loyal zu ihm war sie auch, sonst wäre sie gleich mit der Sprache raugerückt was an diesem furchtbaren Tag wirklich passiert war.
„Ihre Wunde sieht ziemlich furchtbar aus.", meinte er und beobachtete Bors genau.
„Ich weiss, ich habe diese gestern auch zum ersten Mal gesehen.", sagte Bors leise und Kenshin konnte den Schmerz in seinen Augen sehen.
„Wirklich? Wie kann das sein?", fragte Kenshin überrascht.
„Wir haben, seit es passiert ist nicht mehr im gleichen Bett geschlafen, bis auf letzte Nacht.", gestand Bors leise.
„Oh, tut mir leid.", bekundete Kenshin. „Aber sie braucht sicher einfach nur Zeit, sie hat schliesslich jetzt eine sehr grosse Narbe. Vielleicht hat sie Angst, dass du sie wegen der Narbe nicht mehr attraktiv findest."
„Unsinn! Sie wird für mich immer die schönste und attraktivste Frau sein!"
„Ich meine ja nur, es könnte eine Erklärung sein. Was hast du gestern empfunden, als du die Narbe gesehen hast?"
„Na was wohl? Beschissen fühlte ich mich!", sagte Bors aufbrausend und wandte sich vom Kaiser ab. „Ich habe Schuldgefühle, Kenshin."
Kenshin spannte sich ein wenig an, wollte Bors ihm etwas gestehen?
„Weswegen?"
„Ich habe versagt.", erklärte Bors und drehte sich wieder zu ihm um. „Ich habe versagt sie zu beschützen."
Als Kenshin Bors so ansah, wie er mit hängenden Schultern und Schmerz in den Augen vor ihm stand, hatte er grosses Mitleid mit ihm. Er verstand, dass Bors es als sein Versagen empfand, schliesslich waren es Männer nicht gewohnt von den Frauen gerettet zu werden.
„Ich verstehe dich, trotzdem sei nicht zu hart zu dir selbst. Ich bin mir sicher, es wird alles wieder gut. Vertrau mir.", bekräftigte Kenshin, er klopfte aufmunternd auf Bors Schulter und lächelte. Bors nickte und schaute ihn dankbar an.
„Na los, gehen wir wieder rein. Ich muss noch meine Weihnachtsrede fertig schreiben.", sagte Kenshin und sie gingen gemeinsam zurück in den Palast. Währenddessen verwarf Kenshin seine Schlussfolgerung, dass Bors ihm was verheimlichen würde. Er und Anna waren einfach traumatisiert von dem was passiert war. Bors wusste wahrscheinlich nicht mehr wie nah der Attentäter gewesen war und Anna bekam einfach Panik, wenn sie sich daran erinnerte. Das war nichts Abnormales, sie hatten etwas Schreckliches erlebt, das hiess nicht, dass Bors oder Anna ihm etwas verheimlichen wollten. Schliesslich waren sie seine Familie.

Gefangen im Schatten der Liebe - Wieso ich?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt