Delos

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„Ich war noch nie von Naxos fort", Aigles Stimme ist gerade laut genug, um das Rauschen der Wellen zu übertönen

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„Ich war noch nie von Naxos fort", Aigles Stimme ist gerade laut genug, um das Rauschen der Wellen zu übertönen. Für ihre Verhältnisse ist das wie Schreien. Sie steht am Heck des Bootes und beobachtet, wie die Insel hinter uns immer kleiner wird. „Ich wusste nicht, dass das Meer so groß ist. Man sieht kaum noch Land."

Phaiax grinst gutmütig. „Im Moment sehen wir sogar viel Land. Du schaust gerade nach Naxos, rechts daneben kannst du Paros erkennen. Und wenn du nach vorne siehst, erkennst du bereits Rhineia im Westen und Mykonos im Osten. Zwischen beiden liegt Delos, unser heutiges Ziel. Das ist nur eine kurze Strecke."

„Als wir von Kreta abfuhren, sahen wir fast den ganzen Tag überhaupt kein Land", füge ich an. „Aber die Ringinseln rund um Delos liegen dichter beieinander."

Aigle staunt mich an. „Von so weit draußen stammt ihr? Konntet ihr den Tartaros vom Rand aus schon sehen?"

Jetzt bin ich an der Reihe mit Staunen. „Rand? Welchen Rand meinst du?"

Aigle wird rot. Sie ist es ganz offensichtlich nicht gewohnt, viel mit Leuten, zumal mit Männern zu sprechen. Aber inzwischen hat sie die Erfahrung gemacht, dass wir ihr nicht über den Mund fahren, sondern sie reden lassen. Und auch nicht alles, was sie sagt, gleich als „Weibergeschwätz" abtun. Panopeus hat mir deutlich gezeigt, wie ich mit einer Tochter, sollte ich jemals eine haben, ganz sicher nicht umgehen werde.

„Naja", bringt Aigle schließlich hervor, „die Erde ist doch einmal zu Ende. Und da am Rand kann man in den Tartaros hineinsehen. Und wenn ihr soweit entfernt wohnt, dachte ich ..." Sie spricht nicht weiter. Ich warte einen Moment, aber als nichts weiter kommt, erkläre ich ihr: „Kreta liegt nur sehr weit im Mittelmeer, etwa auf halber Strecke zwischen dem griechischen Festland und Ägypten. Das bedeutet also, hinter Kreta ist die Welt nicht zu Ende, sondern es kommt mindestens noch einmal soviel Meer, bis man Ägypten und Lybien erreicht, die ihrerseits auch sehr groß sind. Und nach Osten und vor allem Westen dehnt sich das Mittelmeer noch viel weiter aus." Ich stoppe abrupt, als ich Aigles Gesicht sehe. Sie starrt mich entgeistert an und bemüht sich offensichtlich, die für sie gewaltige Weite zu erfassen.

„Aber wie kann es denn sein, dass die Welt so groß ist?", flüstert sie und ich habe den Eindruck, dass sie am liebsten wieder auf ihre kleine Insel zurückkehren möchte. Ich kann sie sogar verstehen. Ich selbst habe noch Mühe, mich an die Weite der Welt und die Höhe des Himmels zu gewöhnen, nachdem ich so lange von grauen Wänden umgeben war. Aber im Gegensatz zu ihr wusste ich schon immer, wie groß die Erde ist, ich konnte es nur nicht sehen.

„Soll ich dir meine Karten zeigen?", biete ich ihr an und sie nickt dankbar. Und lächelt mich von unten herauf an. „Du bist viel netter als ich erst dachte", gesteht sie.

„Habe ich unfreundlich gewirkt?", erkundige ich mich, als wir mittschiffs gehen. Wieder wird Aigle rot. „Nein, gar nicht", murmelt sie.

Als ich in die Luke eintauche, ruft sie mir hinterher: „Überhaupt nicht! Ich war so dumm – ich hatte Angst vor dir. Du bist so groß!"

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