Kapitel 23 (Konsequenzen) ⚠️ Gewalt

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Sofort lösen wir uns voneinander. Mein Herz schlägt bis zum Hals, Angst macht sich in mir breit.
Er hat uns erwischt. Jetzt ist alles aus. Er wird mich rausschmeißen. Ich werde die Schule nicht beenden können. Ich werde alleine und einsam in den Slums enden. Mein Traum zerstört wegen eines unvorsichtigen Kusses.
„Dad, es ist nicht das wonach es aussieht.", versucht Nathe beschwichtigend auf seinen Vater einzureden und schiebt mich hinter sich.
Mr. Silver schnaubt verächtlich und kommt auf uns zu. Mit jedem Schritt den er näher kommt, möchte ich meilenweit wegrennen. Das blaue Auge von dem Kampf heute Mittag lassen ihn noch gefährlicher wirken, als sonst.
„Jetzt versteh ich so einiges... Wie lange läuft das mit euch beiden schon?", fragt er ganz ruhig. So wie ich ihn kenne, ist das die Ruhe vor dem Sturm. Bitte, lasst es nicht wieder in eine Schlägerei ausarten. Nicht noch mal.
„Da läuft gar nichts zwisch..."Mit einer Ohrfeige wird Nathe unterbrochen und meine Bitte zunichte gemacht.
„Junge, du weißt wie sehr ich Lügen hasse."
Nathes Hand ballt sich zu einer Faust, aber er hält sich zurück. Die Alkoholfahne von Mr. Silver kann sogar ich riechen, ihn im aggressiven Zustand anzugreifen wäre einfach nur lebensgefährlich. Dessen ist sich Nathe auch bewusst weswegen er den Schlag über sich ergehen lässt.
„Es war nur ein Kuss, Victor!", bringt er mit zusammengebissenen Zähnen hervor. „Das hatte nichts zu bedeuten."
Autsch. Das aus seinem Mund zu hören trifft mich irgendwie obwohl ich weiß, dass er es nur sagt, um seinen Vater zu besänftigen. Aber das tut es anscheinend nicht, denn der nächste Schlag landet erneut in Nathes Gesicht.
„So hab ich dich also erzogen?", zischt Mr. Silver und packt nach Nathe T-Shirt um ihn an sich zu zerren. „Dass man aus Langeweile mit Mädchen rumknutscht? Ich denke, ich muss dir noch einiges einbläuen müssen."
Bis jetzt konnte ich nur stumm hinter Nathe stehen, unfähig mich zu bewegen, vor Angst, Respekt und Feigheit. Aber das, was er gerade mit seinem Sohn macht, geht so nicht. Wieder hebt sich seine Hand für einen Schlag. Hier hätte ich die Möglichkeit schnell nach einer Bratpfanne zu greifen...
„Stopp!", schreie ich, so laut es meine zittrige Stimme zulässt. „ICH habe ihn geküsst."
Überrascht lässt Mr. Silver seine Hand sinken. Seine eiskalten blauen Augen richten sich auf mich und durchbohren mich nach der Wahrheit. Es fällt mir mehr als schwer, seinem Blick stand zu halten.
„Caitlin, ich weiß du bist neu hier und dir sind die Regeln im Haus noch nicht ganz klar. Aber wenn du meinem Sohn auch nur noch ein Mal zu Nahe kommst, werd ich dein Stipendium nicht mehr finanzieren. Er soll sich auf die Schule konzentrieren und nicht anderes Zeug im Kopf haben. Und wenn du ihn weiterhin daran hinderst, werde ich dir hier keine Unterkunft mehr ermöglichen können. Hab ich mich klar ausgedrückt?!"
„Ich werde mich nicht...", beginne ich mit innerlich wackeliger Stimme, aber werde sofort unterbrochen.
„Sie wird sich an die Regeln halten.", wirft Nathe ein und stellt sich zwischen uns. „Wir, werden uns daran halten!"
Langsam nickt Mr. Silver und stellt sich aufrecht hin, um auf Augenhöhe mit seinem Sohn zu sein.
„Ich hoffe für euch, dass es das letzte WIR in einem Satz. Apropos wir, wir zwei haben noch etwas zu klären", er deutet mit seinem Zeigefinger auf Nathe und sich.
Sein Ernst? Ich finde, die zwei haben sich für heute genug gerecht aneinander.
Nathe scheint das genauso zu sehen. „Vic, bitte, ich weiß, dass du sauer auf mich bist, aber das hat bis morgen Zeit."
Mr. Silver scheint allerdings nicht darauf eingehen zu wollen, denn sein Blick richtet sie auf mich. „Caitlin, lässt du mich mit meinem Sohn bitte alleine?"
Was soll ich machen? Wenn ich gehe, dann wird das zwischen den zwei Ausarten, aber wenn ich bleibe, wird er mich rauswerfen, ich werde meinem Traum nicht mehr nachkommen können und Nathe in diesem Schlamassel alleine lassen...
Hilfesuchend schau ich in Nathes grüne Augen, der mich beruhigend anlächelt: „Ist schon okay, Kleines."
Bei dem Kosenamen läuft mir sonst ein Schauer über den Rücken, aber jetzt gerade hat er ihn einfach nur benutzt um seinen Vater zu provozieren.
„Wollt ihr das nicht einfach vergessen, was auch immer war?", starte ich meinen letzten Versuch des Streitschlichtens bevor ich die Küche verlasse muss. Ich halte wirklich viel von Vergebung, nicht so wie die zwei Männer hier.
„Mach die Türe hinter dir zu.", ruft Nathe mir hinterher und gibt mir ein Zeichen, dass ich nun wirklich verschwinden sollte. Er schenkt mir ein leichtes Schmunzeln als wolle er mir weis machen, dass alles okay ist. Aber ich fühle mich unglaublich schlecht und feige dabei.
Kaum habe ich die Türe zugezogen, überrollen mich Schuldgefühle. Meine Augen füllen sich mit Tränen.
Ich lasse ihn immer alleine. Er braucht mich gerade da drinnen.
Aber ich weiß auch, dass ich es weder für mich noch für Nathe zu einer besseren Situation mache, wenn ich zurück in die Küche gehe. Da ich keine Ahnung hab wohin mit mir und meiner Panik, begebe ich mich in Nathes Zimmer und kuschele mich in seine Decke ein. Sein Duft liegt im Raum und lässt mich etwas runterkommen.
Am Liebsten würde ich zu Sally oder Feli gehen um das gerissene Gefühl in meiner Brust loszuwerden. Aber ich weiß, ich sollte mit keinem über mich und Nathe reden. Beide würden es nicht verstehen. Sally noch eher als Feli. Nein, Feli wäre sehr enttäuscht von mir, mit werde ich nicht darüber reden können... vielleicht war es eh da letzte Mal, dass ich Nathe so nahe gekommen bin und es gibt gar keinen Grund mit Feli überhaupt darüber zu reden.
Mein Blick fällt auf das Bild einer Frau auf dem Nachtisch. Golden umrahmt lächelt die braunhaarige Frau mit ihren grünen Augen in die Kamera. Dass das Freya, Nathes leibliche Mutter ist, kann man nicht übersehen. Berta hatte nicht übertrieben. Sie war eine wunderschöne Frau mit unglaublicher Ausstrahlung.
Ich nehme das Bild und betrachte es genauer. Sie ist leicht nach vorne gebeugt um den kleinen Jungen umarmen zu können, der schüchtern zu ihr aufschaut. Ihre langen glatten Haare fliegen durch die Luft als wäre das Bild in einer Momentaufnahme entstanden.
Nathe kann nicht älter als 8 Jahre gewesen sein. Seine Hände sind um die seiner Mutter geschlungen. Sein Blick liegt nach oben gerichtet auf seiner Mutter, sein Mund ist leicht geöffnet, als würde er ihr etwas sagen mit einem glücklichen Gesichtsausdruck. Im Hintergrund sieht man eine Wiese nahe an einem Waldrand, eine verschwommene Wäscheleine und ein rotes, umgeschmissenes Fahrrad.
Zum ersten Mal realisiere ich, dass Nathe nicht in dieser Villa aufgewachsen ist. Ivona meinte, dass Victor wegen der Heirat mit Freya auf das Ansehen seiner Familie verzichten musste. Sicher haben sie ihm den Geldhahn abgedreht und Nathe ist in einem ganz normalen Gegend aufgewachsen mit zwei liebevollen Eltern... wie konnte sich das durch den Tod seiner Mutter so krass ändern?

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