Kapitel 32

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Das plötzliche schrille Klingeln von einem Handy reist uns aus unserem Gespräch. In Nathes Footballjacke die noch auf der Bank liegt, ziehe ich sein Handy raus. Victor.
Ich seufze einmal laut und tippe dann auf den grünen Hörer. „Hallo Victor, hier ist Caitlin."
„Wo...", knurrt Victor los, aber er räuspert sich schnell als er hört, dass nicht sein Sohn am anderen Ende der Leitung ist. „Caitlin. Ist Nathan bei dir?"
Ich werde einen Blick aus dem Fenster. Nathe spielt mit meinen kleinen Brüdern Football und hat den Spaß seines Lebens. So wie ich Vic kenne, ruft er nur an, wenn er seinen Sohn zuhause braucht.
„Er ist gerade beschäftigt. Soll ich ihm was ausrichten?"
„Kommt beide schnell nach Hause. Wir haben noch viel zu tun!"
Bevor ich auch nur darauf antworten kann, ist der Anruf beendet. Mein Vater hat meinen traurigen Blick schon sofort erkannt. „Ihr müsst wahrscheinlich wieder gehen, oder ?"
Es bricht mir das Herz ihn so zu sehen. Ich würde meine Familie am Liebsten nie wieder verlassen müssen.
„Schon okay Cait. Du tust das Richtige."
Dad nimmt mich in den Arm, als hätte er meine Gedanken gelesen. Ich kuschele mich eng an ihn.
„Ich kann nicht mal Lucy tschüss sagen, sie sind noch spazieren..."
„Sie wird es verstehen." Sanft streichelt er mir über das Haar, wie er es von klein auf bei mir getan hat. „Du kommst uns einfach in den Ferien wieder besuchen."
Ich möchte meinem Dad keine falschen Versprechen machen, deswegen antworte ich nicht. Aber tief in meinem Herzen werde ich alles versuchen um in den Herbstferien zurück in die Slums zu kommen.
„Danke Papi... für alles."
„Schon okay Stubsi. Jetzt hol dir deinen Jungen vom Schlachtfeld da draußen."
Grinsend schnappe ich Nathes Jacke, ziehe meine Schuhe an und laufe in den Garten. Schon in der Küche konnte ich das glückliche Geschrei von Liam und Mason hören. Wie schön muss es für die zwei sein mal jemand Großen zum Spielen zu haben. Jeremy ist nach der Arbeit meistens zu müde um noch halsbrecherische Aktionen mit den Zwillingen durchzuführen und Football ist für meine Schwestern wenig attraktiv.
Ein paar Minuten schaue ich mir das Chaos auf dem Rasen an, in dem zwei Zwerge versuchen einem Riesen den Ball zu klauen. Aber zu ihrem Glück scheint Nathe heute total tollpatschig zu sein und verliert den Ball imme kurz bevor ein Tor machen kann.
„Nathe.", rufe ich und unterbreche die drei. „Dein Dad hat angerufen. Wir sollten los..."
„Neeinnnn", höre ich Liam schreien, der sich sofort an Nathes Bein wirft und es mit seinen dünnen Armen umklammert. Mason macht es ihm nach und schnappt sich das andere Bein.
Undschuldig lächelt Nathe mich an und zuckt mir den Schultern. Auch ich kann mir ein Lächeln nicht mehr verkneifen. Liam und Mason sind sonst eher abgeneigt neue Leute kennenzulernen, umso mehr freut es mich, dass sie Nathe gerne haben.
„Irgendwie fühlen sich meine Beine zu schwer an" Nathe versucht sein rechtes Bein anzuheben und zieht somit Liam mit in die Luft der vor Freude aufkreischt.
„Jungs, hilft mir Abendessen machen!", ruft Dad aus dem Küchenfenster um unseren Gast von den Klammeraffen zu befreien. Das scheint aber nicht so gut zu funktionieren, keiner der Beiden lässt auch nur ein wenig locker.
„Wir kommen auch ganz bald wieder. Ich bringe euch auch Nathe wieder mit, wenn er möchte." Fragend schaue ich zu ihm auf. Ein glückliches Lächeln umspielt seine Lippen und sanft schaut er mich an. „Ich würde mich sehr freuen."
Nicht könnte mich im Moment zufriedener machen, als dieser Satz. Es ist schön zu sehen, dass Nathe meine Familie gerne hat, obwohl es eine ganz andere Welt ist. Vielleicht hat er sie genau deswegen gern.
„Na gut.", gibt Mason als Erstes nach. „Aber du musst versprechen, du kommst wieder."
„Aber nur, wenn ihr bis dahin weiter trainiert, so wie ich es euch gezeigt habe .", schmunzeln Nathe und hilft Liam auf die Füße. „Und jetzt ab zum Papa."
Wie auf Befehl rennen die zwei in das alte Bauernhaus zurück, wobei sie es sich nicht nehmen lassen ein Wettrennen daraus zu machen. Nathe nimmt mich in den Arm und wir schlendern zu Auto. Es wirkt, als hätten wir beide keine wirkliche Lust zu den Silvers zurück zu gehen.
„Darf ich fahren?", versuche ich mein Glück.
„So wie deine Geschwister es geschildert haben ist das keine gute Idee."
Beleidigt verschränke ich die Arme. „Ich kann Auto fahren, die übertreiben immer. Ich hatte noch nie einen Unfall. Oder vertraust du mir nicht?"
Die Provokation in meiner Frage ist nicht zu überhören. Nathe verdreht Lachend die Augen. „Guter Versuch, Swany, jetzt gehst du auf die provokante Schiene. Ich glaube dir, dass du gut Autofahren kannst, aber das ist das Auto von Vic, ein Automatik und außerdem haben wir Zeitdruck. Wenn du heute Abend Vics Laune nicht im Keller sehen willst, sollte ich lieber fahren."
„Hast du ihn nicht gefragt, ob du das Auto haben darfst?"
Nathe steckt seine Hände in die Jackentaschen und zuckt mit den Schultern. „Er war heute morgen nicht da, ich hatte keine Chance ihn zu fragen.", versucht Nathe sich rauszureden. Dass das ein schwaches Argument ist, muss ich ihm hoffentlich nicht sagen. „Außerdem wäre er erst vor einer Stunde nach Hause gekommen, er hätte es nicht mal bemerkt."
Aber er hat es bemerkt, weil Nathe mich zu meiner Familie gefahren hat und mich hier nicht alleine lassen wollte. Wenn die zwei sich also wieder streiten, dann mal wieder wegen mir.  Na super. Meine Laune sinkt immer tiefer als ich ins Auto einsteige und mich auf den Beifahrersitz setze.
Mit wenigen Zügen ist Nathe aus unserer Hofeinfahrt raus und fährt ohne jegliche Wegbeschreibungen Richtung City.
Ich lege meine Hand auf seinen Schenkel. „Es war so schön, dass du dabei warst heute."
Nathe nickt nur ohne jegliche Reaktion in seiner Mimik. Hab ich mich getäuscht und ihm hat es doch nicht so gefallen? Wenn er das perfekte Lächeln in jeder Situation spielen kann, dann vielleicht auch mehr das?
„Ich beneide dich, Cait!", unterbricht er irgendwann die Stille.
„Mich?", überrascht schaue ich ihn an. „Was hab ich, was du nicht in Mengen hast?"
Nathes Stimme ist rau als er mir die Antwort liefert. „Eine Familie." Sein Blick ist stur auf die Straße gerichtet und seine Hände graben sich ein wenig tiefer in das Leder des Lenkrades ein. „Du hast immer jemanden, zu dem du gehen kannst wenn es dir schlecht geht. Wenn du dich nicht gut fühlst. Oder wenn du einfach mal jemanden brauchst." In jedem Satz schwingt eine Note von Traurigkeit mit. Nathe zeigt ungerne seine verletzliche Seite.
„Es tut mir leid Nathe, es war nicht meine Absicht ...", beginne ich, aber werde von ihm unterbrochen.
„Verdammt Cait, das ist nicht deine Schuld. Hör auf dich ständig zu entschuldigen!" Neben seiner verletzlichen Seite kommt schnell die wütende Seite hervor, die er definitiv von seinem Vater hat. „Du hast mir heute zum ersten Mal gezeigt, wie eine Familie sein kann. Was glaubst du warum ich mit dir nicht in einer richtigen Beziehung bin?"
Weil du Bindungsängste hast, möchte ich fast sagen, aber ich weiß, dass seine Frage rhetorisch war.
„Weil ich niemanden im Leben so eine Familie wie meine Wünsche." Nathes aufgebrachte Stimme senkt sich. „Aber heute...als ich deine Familie gesehen habe... alle sind füreinander da, reden über jedes Problem, helfen sich gegenseitig im Haushalt... die Kleinen dürfen einfach im Gras rumtollen, dein Vater möchte so viel Zeit wie möglich mit dir verbringen, deine kleinen Geschwister himmeln dich an und deine Mum ist an Freundlichkeit nicht mehr zu übertreffen..."
Mir ist erst jetzt klar, das Nathe genau das Gegenteil von seiner Familie in meiner sieht. Und er hat recht. Eine liebende Familie ist ein entscheidender Teil im Leben.
„Aber soooo schlimm ist deine Familie nicht.", versuche ich die Stimmung aufzulockern. „Maxi himmelt dich mindestens genauso an wie meine kleinen Geschwister mich, Ivona ist auch freundlich zu allen, Sally würde dir immer zuhören wenn du ein Problem hast und Victor..." Ich gerate ins Stocken. „Er liebt dich, Nathe... irgendwo tief in seinem Herzen."
Nathe schnaubt verächtlich. Aber ich lasse nicht locker. „ Er weiß es nur nicht richtig zu zeigen, weil er sich selbst hasst. Das Agressionsproblem und der viele Alkohol ist alles nur, weil er sich selbst nie verziehen hat, dass deine Mutter gestorben ist. Und er sie nicht retten konnte."
„Ich konnte sie nicht retten, Cait...", Nathes Stimme ist nicht mehr als ein Hauchen. „Und alleine deswegen habe ich das alles verdient."
Ungläubig starre ich meinen Gegenüber an. Ist das der Grund, warum Nathe nicht wegen Körperverletzung und häuslicher Gewalt zur Polizei geht und seinen Vater anzeigt? Weil er denkt, er hat das verdient? Wegen Selbstjustiz? Weil Victor ihm einredet, dass er Schuld am Tod seiner Mutter ist?
Egal was ich jetzt sagen würde, es würde ihn nicht überzeugen. Zu sehr sitzt in seinem Kopf die jahrelange, eingepflanzte Lüge seines Vaters.
„Wir sollten niemanden sagen, dass wir in den Slums waren.", murmele ich.
Nathe biegt in die Villenstraße ein und betätigt einen Knopf, der das Tor zur Einfahrt automatisch öffnet. Vielleicht mag die Gegend hier viel schöner sein, aber die Menschen sind es nicht. Zumindest nicht innerlich.
Nathe parkt das Auto im Hof, stellt den Motor ab und schaut mich an. Die Müdigkeit in seinem Blick ist nicht zu übersehen
„Ich hab keine Lust mehr auf Lügen. Mir fehlt dazu langsam die Kraft."
„Also willst du deinem Vater sagen, dass wir den ganzen Nachmittag ZUSAMMEN in den Slums waren?" Jede Lüge der Welt würde ich jetzt bevorzugen.
Nathe zuckt mit den Schultern als wäre es ihm egal. Würde er nicht nervös auf seiner Unterlippe kauen, hätte ich ihm auch fast geglaubt.

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