Lucy half ihrer jüngeren Schwester beim Ankleiden. Die Wahl der Robe überließ sie Louisa, die sich für einen sanft gelben Stoff entschied. Vor dem Spiegel sitzend, machte sich ihre ältere Schwester an Louisa's Haar zu schaffen und fuhr mit ihren Fingern sanft durch die nussfarbenen Locken. Im Spiegel trafen sich ihre Blicken. Sie glichen einander fast bis in jedes Detail, nur dass Lucy um einiges größer war und weiblichere Rundungen besaß als Louisa es sich je wünschen könnte. Vermutlich war dies einer der Gründe, weshalb Lucy ihren Verlobten so schnell um den Finger gewickelt hatte. Natürlich war sich die junge Mrs. Tilbury sicher, dass Edward Pembroke keineswegs ein oberflächlicher Mann war, trotzdem musste auch ihm ihre reine Schönheit aufgefallen sein. Sie betrachtete das Feingefühl, mit dem Lucy die Locken ineinander steckte und mit Nadeln befestigte. Eine Präzision, die Louisa auch gern besessen hätte. Auf der Harfe, die jeden Abend erklang, traf Lucy jede Saite mit soviel Sanftheit, dass man glaubte, allein der Wind spielte die Melodie. Auch ihre Pinselstriche auf ihren Leinwänden besaßen einen eleganteren Schwung als Louisa's. Es gab keinen Zweifel, ihre ältere Schwester war künstlerisch definitiv begabter. Früher hätte die junge Mrs. Tilbury dahingehend die Eifersucht gepackt, inzwischen fand sie sich damit ab.
Lucy schien den nachdenklichen Blick ihrer jüngeren Schwester bemerkt zu haben. „Liebste Louis, ich vergaß tatsächlich, dass ich dir aus London eine Kleinigkeit mitbrachte." Mit tänzelnden Schritten schwebte Lucy aus dem Zimmer und kehrte innerhalb von wenigen Minuten mit einem verschnürten Päckchen in der Hand zurück. Louisa packte die Neugier. Vergessen waren die boshaften Worte ihrer Mutter. Mit kribbelnden Fingern öffnete sie die Leinenschnur, die grazil um das Geschenk gewickelt war. Als ihr der Inhalt ins Auge sprang, zauberte sich ein breites Grinsen auf ihre Lippen. Es handelte sich um ein Buch, in Stoff eingebunden mit zarten Blumen, die den Buchdeckel verzierten. Es schien eine Sammlung von Gedichten zu sein, wie der Titel ihr verriet. „Ich habe es in einem kleinen Buchladen in London gekauft. Bereits im ersten Augenblick als ich es sah, wusste ich, dass es dir gefallen würde."erklärte Lucy und nahm wohlwollend zur Kenntnis, dass sich ihr menschliches Gespür bewiesen hatte. „Und wie liebste Schwester, es ist bereits mein Lieblingsbuch, auch wenn ich noch keine Zeile gelesen habe." Ehrfürchtig strich sie über das weiche, dünne Papier auf dem sich eine geschwungene Handschrift entlang zog. Weich und verschnörkelt. „Oh ich bin mir sicher, das können wir schnell ändern. Komm, die Anderen warten bereits auf uns. Ich denke, einer kleinen Kostprobe deines Talents ist nicht entgegen zu setzen. Schließlich muss ich mich doch davon überzeugen, dass du während der Zeit die ich nicht hier verweilte, ordentlich geübt hast." Louisa folgte ihrer Schwester nach unten. Inzwischen hatte sich das mulmige Gefühl aus ihrem Magen endlich verzogen und Glück strömte durch ihre Adern. Diese Kleinigkeit hatte endlich die Dunkelheit aus ihrem Gemüt verscheucht.
Die Tilbury's saßen mit Lady Barton, Lady Allen und Sir Edward Pembroke bereits auf den brokatbesetzten Sitzgelegenheiten im Salon und machten sich hungrig über die süßen Häppchen her, die Bridget gemeinsam mit dem Nachmittagstee aufgetischt hatte. Als die Schwestern den Raum betraten, ruhten die Blicke der Anwesenden auf ihnen. Lord Henry Tilbury lächelte seine jüngste Tochter an. „Louisa, du siehst wunderschön aus." Mit einem leichten Kopfnicken bedankte sich die junge Mrs. Tilbury bei ihrem Vater für das Kompliment und ließ sich neben Lady Allen auf das kleine Sofa nieder. Lady Helen schenkte ihr ebenfalls ein halbherziges Lächeln. „Wenn du dich nur immer so kleiden könntest, ohne, dass man dich erst auf deinen abstoßenden Aufzug hinweisen muss." Die Worte versteinerten Louisa's Glieder augenblicklich. Sie versteifte ihren Rücken und blickte peinlich berührt auf den Tee in ihrer Hand. „Mutter bitte, lassen wir dieses Thema und widmen uns lieber schöneren Dingen."warf Lucy ein und umfasste den Arm ihres Verlobten. Louisa bewunderte ihre große Schwester für den Mut, ihrer Mutter Paroli zu bieten. Sie wünschte sich ebenfalls diese Taffheit besitzen zu können.
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Liebe und Verstand
Historical FictionDem zukünftigen Mann der Schwester zu verfallen, schickt sich nicht für eine Dame ihres Standes. Dessen ist sich Louisa Tilbury bewusst, doch die tiefblauen Augen von Sir Edward Pembroke bringen die junge Frau immer wieder um den Verstand. Dass ausg...