Während des Nachmittagtee's schwiegen die Gäste bedächtig. Die Blicke verloren sich in dem trüben Earl Grey und den trostlos wirkenden Biscuits auf der Prozellanétagere. Kein Laut drang durch den Salon, lediglich das Hantieren der Dienstboten in der Küche durchbrach gelegentliche die schwere Stille, die sich wie eine dicke Decke über den Raum gelegt hatte. Louisa warf wiederholte, unauffällige Blicke auf Georgiana, die schräg gegenüber auf einem Stuhl saß und ihre Aufmerksamkeit dem regen Treiben auf London's Straßen schenkte. Schließlich senkte sie ihre tiefblauen Augen auf Louisa, verzog jedoch keine Miene. Die Finger der jungen Miss Tilbury kribbelten vor Nervosität. Es drängte sie, herauszufinden, woher Miss Pembroke von dem Geheimnis zwischen ihr und Edward wusste, oder ob sie die junge Frau lediglich in eine Falle tappen lassen wollte. Georgiana's Miene war verschlossen, wie ein Buch mit sieben Siegeln.
Schließlich trat eines der Hausmädchen in den Salon und zerschnitt damit das Band der Stille. „Miss Pembroke, ihre Mutter wünscht nach ihnen." Ihre zarte Stimme erinnerte an einen Kanarienvogel und Louisa war sich sicher, dass ihre Singstimme wundervoll sein musste. Georgiana sprang auf und warf dabei beinahe den Beistelltisch neben dem Sofa um. Mit eiligen Schritten durchquerte sie den Raum. Ein Wind aus Erleichterung, endlich aus dieser bedrückten Stimmung entfliehen zu können und Besorgnis um ihre Mutter verfolgte sie. Bevor sie sich der Gemeinschaft endgültig abwandte, hielt sie am Türrahmen inne. „Liebste Louisa, wollt ihr mich begleiten, ich hörte ihr hättet viel Ahnung von Kräutern und ihren Wirkstoffen." In diesem Moment wäre sie der jungen Frau am liebsten um den Hals gefallen. Die ständige Warterei zerrte an ihren Nerven.
Stillschweigend folgte sie Miss Pembroke die Wendeltreppe hinauf. Georgiana schien es nicht eilig zu haben, im Gegenteil, auf den Stufen verlangsamte sie ihre Geschwindigkeit. Louisa biss sich auf die Innenseite ihrer Wange. War nun eine günstige Gelegenheit gekommen, zu Edward's Schwester vorzudringen? Bevor sie den Mund öffnete, kam ihr Georgiana zuvor. „Louisa, ich kann ihre Unentschlossenheit riechen wie die Ausscheidung der Pferde auf den Straßen." Auf dem oberen Treppenabsatz fuhr sie herum und die junge Miss Tilbury rutschte beinahe von der Stufenkante. „Ich sehe es euch an, die Fragen brennen auf eurer Zunge." Louisa überraschte die gute Menschenkenntnis, die Georgians trotz ihres jungen Alters besaß. Womöglich war die junge Miss Tilbury auch einfach zu durchschauen. Sie atmete tief durch und stieg die letzten Stufen hinauf, um die selbe Augenhöhe wie Miss Pembroke zu erreichen.
„Ich dachte eure Mutter rief nach euch. Meint ihr nicht, ihr Anliegen sei dringend?" Sie versuchte sich an Edward's Schwester vorbeizudrängen. Georgiana überging Louisa's ausweichende Bemerkung. „Ich wette euch interessiert brennend, woher ich von dem kleinen schmutzigen Geheimnis zwischen ihnen und Edward weiß." Die junge Miss Tilbury schloss die Augen, versuchte tief durchzuatmen. Panik überkam sie. Hatte Georgiana vor, sie zu erpressen? Wütend fuhr sie herum und funkelte Edward's Schwester an. „Wir haben kein kleines, schmutziges Geheimnis, es ist nichts passiert, bis auf..."
„...einen Kuss."vollendete Georgiana den Satz und grinste gewinnreich.
Die Wut in Louisa's Gesicht verwandelte sich in blanke Angst. Ihre Züge entgleisten. „Woher wisst ihr davon?" Ihre einst feste Stimme glich nun einem Hauchen, das vom Wind fortgetragen wurde.Georgiana senkte die Stimme bevor sie antworte. „Lasst es mich so sagen, Edward und mich verbindet ein enges Band, wie es normalerweise nur Zwillinge begründen können. Ich weiß, was in seinem Kopf vorgeht, was ihm Sorgen bereitet und was ihn beschäftigt. Und ich weiß, wenn er verträumt in der Gegend herumstarrt, dass er an jemanden denkt. Und wenn er an Lucy dachte, sah er niemals so aus. Deshalb bin ich dem auf die Spur gegangen. Und Edward kann nunmal keine Geheimnisse für sich behalten, vor allem nicht vor mir." Louisa wich Georgiana's eindringlichen Blick aus und knetete nervös ihre Hände. „Also hat er euch alles erzählt?"
Die junge Frau nickte. „Er schrieb mir beinahe wöchentlich seitenlange Briefe über euch, als er in Somerset verweilte. Ständig war die Rede von Euch, nie von Lucy. Es wirkte beinahe, als hätte er sich mit ihnen verlobt und nicht mit eurer Schwester."flüsterte Miss Pembroke.
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Liebe und Verstand
Historical FictionDem zukünftigen Mann der Schwester zu verfallen, schickt sich nicht für eine Dame ihres Standes. Dessen ist sich Louisa Tilbury bewusst, doch die tiefblauen Augen von Sir Edward Pembroke bringen die junge Frau immer wieder um den Verstand. Dass ausg...