Kapitel 15 - Fieberwahn

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Lucy verweilte den restlichen Abend am Bett ihrer jüngeren Schwester. Strich ihr durch die dunklen, matten Locken, über die weichen Wangen und brachte ihr eigenständig den Kamillentee, den Bridget in der Küche minütlich kochte. Neben dem starken Husten und dem aufkommenden Schnupfen, verfiel Louisa zunehmend dem Fieberwahn. Schweißperlen rannen ihr über die Stirn, durchnässten Nachthemd und Bettwäsche. Immer wieder flüsterte sie undeutliche Worte, fuhr sich mit den Fingern durch den Haarschopf oder warf den Kopf wild hin und her. Lucy schmerzte der Anblick ihrer Schwester. Nicht einmal die abenteuerlichen Geschichten aus ihrem Lieblingsbuch konnten Louisa's Zustand verbessern. Lord Henry Tilbury lief nervös im Salon auf und ab, Lady Helen Tilbury versuchte sich mit einer Stickerei abzulenken. Lady Barton, die vor weniger als einer Stunde angereist war, saß zusammen gesunken mit tiefen Sorgenfalten in der Stirn auf der Couch. Immer wieder glitt ein verzweifeltes Seufzen über ihre Lippen. Lady Diana Stanhope ging es nicht anders. Sie verweilte auf einem Hocker, das Gesicht in den Händen vergraben.

Sir Edward Pembroke lehnte gegen den Fensterrahmen und ließ seinen Blick über Waterlilies Park schweifen. Die untergehende Sonne hatte es geschafft, einige wenige ihrer Strahlen durch die tiefhängenden Wolken zu brechen. Im Licht tanzten die Mücken ihren abendlichen Tanz und kündigten hervorragendes Wetter für den nächsten Tag an. Ab und zu erhaschte er einen Blick auf ein Reh oder einen Fuchs, die sich zwischen den Büschen und Bäumen tarnten, in der Hoffnung den Jägern zu entgehen, die sich inzwischen wieder auf ihre edlen Rosse geschwungen hatten. Lord Cecil Stanhope hatte sich ihnen angeschlossen. Zum einen, um der drückenden Stille des Hauses zu entkommen, zum Anderen um seinen ungestümen Hengst einen Gefallen zu tun. Nach Sir Pembroke's Gesellschaft wurde ebenfalls gefragt, doch Edward hatte abgelehnt. Er konnte Waterlilies Park nicht mit dem Gedanken verlassen, dass Louisa schwer krank in ihrem Zimmer lag. Zu gern wollte er nach ihr sehen, sich nach ihrem Zustand erkundigen. Die Besorgnis in seinem Inneren fraß ihn beinahe auf. Doch Lucy hatte ausdrücklich verlangt, dass niemand ihre Zweisamkeit störte. Der Sinneswandel seiner Verlobten brachte Edward ins Grübeln. Noch wenige Tage zuvor, hatte er nicht das Gefühl gehabt, Lucy würde sich ernsthaft für ihre jüngere Schwester interessieren. Gleichzeitig hatte er in London bereits bemerkt, dass ihr Gemüt den Launen der Natur glich. Vielleicht packte die ältere Mrs. Tilbury auch lediglich das schlechte Gewissen, für ihr schäbiges Verhalten der letzten Tage.

„Lucy kann uns doch nicht einfach hier unten zurück lassen, ohne Nachricht über die liebe Louisa."brach es aus Lady Barton heraus. Sie griff nach einem Taschentuch und putzte sich die schniefende Nase. Lady Helen Tilbury stickte unbeirrt mit zitternden Fingern weiter. Gleich darauf entfloh ihr ein kurzer Aufschrei, als die Nadel in ihrem Zeigefinger landete. Eilig fischte Lord Henry Tilbury nach seinem Taschentuch und band es um den blutenden Finger seiner Ehefrau. Dann sank er neben ihr in das weiche Brokat des Sofa's.

„Sie hat ausdrücklich um Ruhe gebeten."gab er der hysterischen Lady Barton zu verstehen. „Wir müssen ihren Wunsch respektieren, Lucy weiß am besten was gut für ihre Schwester ist. Schließlich tragen sie das gleiche Blut in sich."fügte er, mit ein wenig Unmut in der Stimme hinzu. Lady Helen Tilbury bemerkte dies und legte ihre Stickarbeit beiseite. „Nun ich bin mir nicht sicher, woher sie ihre plötzliche Besorgnis um Louisa nimmt. In den letzten Tagen wirkte sie eher abwesend und benahm sich ihrer jüngeren Schwester gegenüber sehr frech. Ist dir das nicht aufgefallen, Liebster?" Lord Henry Tilbury blickte unwirsch drein, nicht sicher, wie er darauf reagieren sollte. Dafür nickte Lady Barton eifrig. „Oh ja, ich erinnere mich bloß an den Nachmittag bei Sir Arthur Egerton auf Heathermoore Abbey. Lucy stellte Louisa vor der ganzen Gesellschaft bloß, was ihr garnicht ähnlich sieht. Bevor sie nach London reiste, zeugte ihr Gemüt von Ruhe und Ausgeglichenheit. Kaum ist sie wieder hier, kann sie ihre Gefühlsausbrüche nicht mehr kontrollieren."

Lady Helen Tilbury's Blick schweifte zu Sir Edward Pembroke, der noch immer gegen den Fensterrahmen gelehnt, seinen Blick über den Besitz der Familie schweifen ließ. „Nun Edward, wie haben sie Lucy in London kennengelernt. Wie hat sie sich ihnen gegenüber verhalten?" Als er seinen Kopf ihnen zuwandte, bildete sich Lord Henry Tilbury ein, ein kurzes Funkeln in seinen tiefblauen Augen erkennen zu können, welches allerdings so schnell wieder verschwand wie es gekommen war. „Ich habe Lucy als eine sehr selbstbewusste Frau kennen gelernt, die wusste was sie wollte. Sie ist eine begabte Tänzerin, Sängerin und Pianistin und hat sicherlich noch viele andere lobenswerte Talente. Zum Ende hin ihre Aufenthalts in London und nachdem ich ihr den Antrag gemacht hatte, wandelte sich ihr Gemüt, anfangs unauffällig. Es gab Situationen, da brach eine Kälte aus ihr heraus, die mich frösteln ließ. Sie wurde schnippisch und frech, in anderen Moment war sie wieder die selbe Lucy, die ich kennengelernt hatte." Alle nickten benommen. Lord Henry Tilbury und Sir Edward Pembroke warfen sich einen langen Blick zu, beide wussten, irgendetwas musste in London vorgefallen sein.

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