Kapitel 25 - Aufruhr in Waterlilies Park

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Die Stimmung in den Gemäuern von Waterlilies Park als allgemeine Unruhe zu bezeichnen, wäre eine gewaltige Untertreibung gewesen. Lord Henry Tilbury lief nachdenklich im Salon auf und ab, die Stirn in Falten gezogen, sodass sich tiefe Schatten auf seinem Gesicht abzeichneten. Lucy Tilbury rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, die Finger merkwürdig in einander verschränkt, ihre Unterlippe bebte, was ein Zeichen für Verzweiflung war. Louisa beschloss ihren Groll beiseite zu schieben, ließ sich neben ihre ältere Schwester nieder und umgriff sanft Lucy's klamme Hände. Diese schenkte ihr daraufhin ein dankbares Lächeln. Die ältere Miss Tilbury hatte scheinbar ebenfalls ihre Haut aus Eis und Kälte, die sie für Louisa errichtet hatte, abgelegt.

Lady Helen Tilbury lehnte in einem Sessel, den Kopf stöhnend zur Seite gelegt. Bridget tupfte ihr mit einem kühlen, nassen Tuch unentwegt die gerötete Stirn. Flecken der Nervosität zierten ihren Hals und ihr Dekolleté wie ein Blumenfeld die Wiesen von Somerset im Sommer. Immer wieder verließen einzelne Worte unter tiefergehenden Sinn ihre Lippen. Eine Vielfalt aus Sir Pembroke, London und Unglück. Louisa's Blick schweifte zu ihrem Vater, in dessen Gesicht allerdings ebenfalls keine Antworten auf ihre Fragen, die wie lästige Fliegen in ihrem Kopf schwirrten, zu finden waren.

„Oh das ist alles so schrecklich."entfuhr es Lucy und sie rieb sich die Stirn. „Was ist denn passiert?"wagte sich Louisa zaghaft vor. Noch immer konnte sie nicht fassen, was gerade in Waterlilies Park vor sich ging. Sir Edward Pembroke war tatsächlich fort. Er hatte die Kutsche der Tilbury's genommen, die schnellsten Pferde vorgespannt und war überstürzt nach London aufgebrochen. Unbewusst berührte Louisa ihre Lippen, die noch immer von dem leidenschaftlichen Kuss kitzelten, als würden sanfte Flammen die zarte, rote Haut malträtieren. Augenblicklich stieg ihr die Röte ins Gesicht und sie senkte eilig den Blick. Die ältere Miss Tilbury wandte sich an ihre jüngere Schwester. „Edward ist fort. Ein Telegramm aus London erreichte ihn mit einem Eilboten. Oh Louis', es ist alles so grauenvoll. Seine Mutter...ich kann es kaum aussprechen, doch der Tod wartet bereits an ihrem Bettende auf sie. Hoffentlich kommt Edward nicht zu spät, oh ist das schrecklich. Ich mag mir seinen Gemütszustand nicht vorstellen." Lucy's Worte wurden immer wieder von heftigen Schluchzern verschluckt. Tränen rannen ihr über die Wangen, so heftig, als wäre es die eigene Mutter, die im Sterbebett lag. Louisa schlang die Arme um ihre ältere Schwester und strich ihr beruhigend über den braunen Haarschopf. Lucy drückte ihr tränennasses Gesicht gegen die Schulter der jüngeren Miss Tilbury. Bei jedem aufkommenden Schluchzer zuckte ihr Körper zusammen, wie der eines Wilden Tieres, wenn es in eine Falle geriet und langsam sein Geist entschwand.

Louisa konnte nicht fassen, was ihr gerade zu Ohren gekommen war. Ihre Brust zog sich schmerzhaft zusammen, bei dem Gedanke, welche Sorgen Edward wohl bereiteten. Das Wasser schoss ihr in die Augen, doch sie blinzelte sie eilig weg. Ihr stand es nicht zu auch nur eine Träne für den zukünftigen Mann ihrer Schwester zu vergießen, mochte geschehen sei was wollte. Lord Henry Tilbury betrachtete seine Töchter mit einer Mischung aus Sorge und Verzweiflung, auch ihm standen die Fragen ins Gesicht geschrieben, obwohl sich Louisa keinen klügeren Menschen vorstellen konnte als ihren Vater. Lady Helen Tilbury hatte sich langsam von ihrem Schock erholt und schickte Bridget in die Küche, um eine Kanne Tee zur Beruhigung zu kochen. Auch Lucy's Körper bebte kaum noch, das Schluchzen war verebbt. Langsam richtete sie sich wieder auf, griff nach ihrem Spitzentaschentuch und tupfte sich die feuchten, geröteten Wangen. Ihre Locken hatten sich aus der Steckfrisur gelöst und hingen ihr in einem einzigen Wirr Warr ins Gesicht. Sie wirkte so zerstreut als hätte sie ihre Orientierung verloren. Ihr Anblick versetzte Louisa ein Stich ins Herz.

„Konntet ihr euch noch verabschieden? Hat er gesagt, ob und wann er er wieder zurückkehrt?"fragte Louisa vorsichtig, in der Hoffnung ihre ältere Schwester nicht zu überrumpeln. Doch sie schien all ihre Tränen vergossen zu haben, lediglich ein leises Seufzen verließ ihre trockenen Lippen. Ihr Blick wanderte zu ihrer älteren Schwester, doch ihre Augen schienen in eine weite Leere zu sehen. Louisa biss sich auf die Innenseite ihrer Wange. „Nein, er musste so schnell weg, er berichtete mir lediglich von dem Telegramm, dann entschwand er auch schon nach draußen." Ihre Stimme glich einem brüchigen Flüstern, doch trotzdem drangen die Worte so laut an Louisa's Ohren, dass sie sich augenblicklich versteifte. Edward hatte sich also nicht von Lucy verabschiedet, stattdessen hatte er Louisa in der Weite von Waterlilies Park aufgesucht. Die Schuld legte sich wie eine schwere Last auf Louisa's Schultern und drückte sie zu Boden. Tausende Gefühle stürzten wie strömender Regen auf sie nieder und begruben sie unter sich.

Während des Abends legte sich eine düstere Stimmung über das Anwesen im Herzen von Somerset. Der köstliche Braten wurde kaum angerührt, stattdessen zogen sich die Herrschaften rasch in ihre Gemächer zurück. Stille kehrte in die Fluren und Gängen ein. Louisa lehnte sich gegen den kühlen Fensterrahmen und ließ ihren Blick über die weite Landschaft streifen, deren Wiesen und Wälder nun von der aufkommenden Dunkelheit der Nacht verschluckt wurden. Wie ein kriechendes Ungeheuer näherte sie sich dem Anwesen der Familie Tilbury und überrollte erst die Rosenhecken, die von einer dünnen, weißen Schicht bedeckt waren und schließlich den Springbrunnen in der Mitte des Vorplatzes. Der Engel auf der Spitze des Brunnens blickte siegessicher in den Himmel, eine Posaune in der rechten Hand an die Lippen erhoben. Er schien sich des Ausgangs der Schlacht bewusst zu sein. Die widersprüchlichen Gefühle, die allerdings in Louisa's Innerem wie in einem Krieg tobten, ließen kein Ende des Kampfes erahnen. Am liebsten würde Louisa schreien, hinaus in die bedrückende Stille ihrer Umwelt, in der naiven Hoffnung damit endlich Ruhe in ihrem Geist zu finden.

Stattdessen schlüpfte sie in ihr Nachtgewand und zog die dicke, kratzige Wolldecke bis zu ihrem Kinn hinauf. Doch der Schlaf wollte keine Einkehr finden. Louisa lauschte in die Stille, suchte nach dem leisesten Geräusch aus einem der anderen Zimmer im oberen Geschoss des Anwesens. Kein Laut drang an ihr Ohr. Wahrscheinlich schliefen ihre Eltern sowie ihre ältere Schwester bereits tief und fest und erholten sich von dem Schock, dachte Louisa mit einer Spur von Neid. Sie starrte an die Decke ihres Zimmers, deren Stuckverzierungen nur schemenhaft in der Dunkelheit der Nacht zu erkennen waren. Unaufhaltsam wanderten ihre Gedanken in den Park zurück, wo sie geglaubt hatte, in den nächsten Stunden würde abgesehen von dem wundervollen Spaziergang nichts besonderes mehr vor sich gehen. Doch dann war Edward aufgetaucht, hatte sie überrumpelt und ihr Herz wieder einmal wild schlagen lassen. Noch immer konnte sie ihre Gedanken nicht ordnen. Der Kuss hatte sie verwirrt, glücklich und verzweifelt zugleich gemacht. Bedeutete er, dass Edward ebenfalls Gefühle für sie hegte? War er sich seiner Liebe zu Lucy nicht sicher? Wieso hatte er Louisa zum Abschied geküsst und nicht auch seine zukünftige Frau? Was ging in seinen Gedanken vor? So viele Fragen schwirrten in ihrem Kopf, sodass sie Schmerzen bekam. Seufzend schloss sie die Augen, ließ die Schwärze der Nacht die Überhand übernehmen. Tatsächlich hatte der langersehnte Schlaf nach wenigen Stunden Erbarmen mit der jungen Miss Tilbury.

Der nächste Morgen brach düster und neblig an und glich damit dem Gemüt von Waterlilies Park und seinen Bewohnern. Schweigen breitete sich an der Frühstückstafel aus, auch das Brot und die selbstgekochte Konfitüre wurde kaum angerührt, der Tee wurde in den bemalten Porzellantassen kalt. Schließlich hielt Lord Henry Tilbury die Stille nicht mehr aus. Er räusperte sich und öffnete seine spröden Lippen. „Nun es bringt nichts Trübsal zu blasen und die Trauer gewinnen zu lassen, wir müssen einen kühlen Kopf bewahren und dürfen uns nicht von schlechten Nachrichten unterkriegen lassen." Seine Stimme war brüchig, trotz dass er den kläglichen Versuch startete eine gewisse Festigkeit in sie zu legen. Lucy Tilbury warf ihrem Vater einen verständnislos Blick zu. „Lieber Herr Vater wie kannst du so etwas sagen? Die werte Lady Pembroke liegt im Sterben und wir sollen mit unserem Tun einfach so weitermachen, als wäre nichts geschehen? Das ist absurd." Louisa versteifte sich. Normalerweise ließ Lord Henry Tilbury solch respektlosen Ton seinen Töchtern nicht durchgehen, doch heute schien ihm die Kraft für einen Tadel zu fehlen. Wieder fand die Stille im Salon Einkehr.

„Vater hat recht, hier herumsitzen, schweigen und Trauer walten lassen hilft Sir Edward Pembroke nicht."sprach Louisa zaghaft. Lucy warf ihr einen missbilligenden Blick zu. „Und was sollen wir deiner Meinung nach tun liebste Schwester?" Die junge Miss Tilbury überhörte den Spitzen Unterton nicht, Lucy schien noch immer Groll gegen ihre jüngere Schwester zu hegen. Der gestrige Schock und die liebevolle Zuwendung schienen vergessen. Doch Louisa beschloss sich davon nicht unterkriegen zu lassen.

„Ich denke es ist das Beste, wenn wir nach London reisen und Edward und seiner Familie in diesen schweren Zeiten beistehen."

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Lang war es hier still und ich bekam liebevolle Nachrichten mit tollen, positiven Rückmeldungen zu meiner Geschichte und der Bitte endlich weiter zu schreiben. Die letzten Monate waren für mich recht stressig und ich habe kaum Zeit für Privates gefunden. Ich hoffe im nächsten Jahr wird das besser.

Damit wünsche ich euch bereits jetzt ein frohes neues Jahr, möge es für alle, die 2022 gehasst haben besser werden und für alle anderen genauso toll.

Liebe und VerstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt