Louisa hielt krampfhaft die Luft an, als ihre ältere Schwester den Rücken ihres Kleides knöpfte. Ihre Organe schienen sich in entgegen gesetzte Richtungen zu schieben. Ihr Blick fiel auf den stoffreichen, nachtblauen Rock ihres Tanzkleides mit dem schimmernden Saum und der kleinen Schleppe. Einer der Gründe, wieso sie solche gesellschaftlichen Abende verabscheute, war die unbequeme Kleidung, in der sie stundenlang ausharren musste. Viel lieber schlüpfte sie in ihre weichen Baumwollkleider, die ihr genug Platz zum Atmen boten. Trotz allem, durfte sie sich nicht beschweren. In Somerset war schon seit Ewigkeiten kein Ball mehr veranstaltet wurden, weshalb die Vorfreude, die ein oder anderen Bekanntschaften neu aufleben zu lassen, die Schmerzen in ihrer Magengegend schnell vergessen ließen.
„Während unserer Reise in Berrow, scheinst du nun wieder ordentlich zugelegt zu haben."gab ihr Lucy zum Verstehen und Louisa biss sich wütend auf die Innenseite ihrer Wange. Natürlich war sie beinahe wie ein hungriger Tiger über die köstlichen Fischspezialitäten in Form von Pasteten und Aufläufen hergefallen, trotzdem wog sie nicht viel mehr, als vor dem kräftezehrenden Virus. Doch sie schluckte eine bissige Bemerkung herunter und machte sich nun an den Knöpfen des Kleides der älteren Mrs. Tilbury zu schaffen. Lucy schien weder ein Gramm zugelegt, noch abgenommen zu haben. Wie schon so oft, beneidete Louisa ihre Schwester um ihre wohlgeformten Rundungen in Form einer schmalen Taille, sowie einer breiten Hüfte, mit der die junge Mrs. Tilbury nicht gesegnet war.
Lucy strich verträumt über den weichen Seidenstoff ihres rotweinfarbenen Tanzkleides. Die Farbe schmeichelte ihrer porzellanähnlichen Haut. „Lady Swan hat sich mit dem Schnitt und der Auswahl des Schmucks wirklich selbst übertroffen, findest du nicht auch, liebe Schwester?"meinte die älteres Mrs. Tilbury und betrachtete ihr herzförmiges Gesicht im Spiegel, welches von zarten, haselnussbraunen Locken umrahmt wurde. Während Louisa die Strähnen an Lucy's Hinterkopf feststeckte, nickte sie. „Oh Gewiss! Selten habe ich ein so schönes Kleid getragen wie heute." Lucy glitt ein sehnsüchtiges Seufzen über die vollen, roten Lippen. „Nun, in London hat mich Lady Allen ebenfalls mit pompöser Mode versorgt. Ganz wie es die Damen der High Society in Paris tragen. Schon beim Gedanke an diese persische Seide mit den Strassverzierungen und Chiffon Röcken überkommt mich das Verlangen, dort hin zurück zu kehren. Das Landleben ist mir inzwischen völlig fremd. Ich bewundere dich für deine Liebe zur Natur."
„Sicherlich wirst du mit Edward zurück nach London kehren, wenn ihr verheiratet seid. Nur besteht Vater darauf, dass ihr die Zeremonie hier in Somerset vollführt." Louisa fuhr mit dem Kamm durch die Locken ihrer älteren Schwester. „Ich habe das Gefühl, Edward scheint das aufregende Leben in der Stadt nicht so sehr zu vermissen wie ich, was womöglich daran liegt, dass er in London aufgewachsen ist. Er äußerte mir gegenüber sogar den Wunsch, ein Anwesen in Kent oder Sussex zu kaufen. Dabei kann ich mir nicht vorstellen, mein restliches Leben auf dem Land zu vergammeln und auf den Dorftratsch angewiesen zu sein. Oh nein, diese Vorstellung erfüllt mich mit Grauen." Lucy erschauderte. Louisa schweifte mit den Gedanken ab. Wie schön fände sie die Vorstellung, direkt in Littlehampton in Sussex oder in Whitstable in Kent zu wohnen, wo die Wellen an den Klippen brachen, während an jedem Abend die Sonne im Meer versank und dem Mond und den Sternen den Himmel überließ. Beinahe wäre ihr ein verträumtes Seufzen entflohen.
Lord Henry und Lady Helen Tilbury warteten bereits auf dem Vorplatz des Anwesens, gemeinsam mit den Stanhope's, die ebenfalls von Mr. Arthur Egerton zum Ball geladen wurden. Gerade als Sir Edward Pembroke zu ihnen stieß, verließen auch Lucy und Louisa Tilbury das Haus. Im selben Moment fuhren die Kutschen vor. Lord und Lady Stanhope leisteten Sir Edward Pembroke und Lucy Tilbury Gesellschaft, während Louisa Tilbury mit ihren Eltern nach Heathermoore Abbey fuhr. Die Vorfreude auf das Wiedersehen mit Mr. Arthur Egerton zauberte ihr ein Lächeln ins Gesicht, welches ihrem Vater nicht entging. „Nun wie ich sehe, freust du dich auf den Abend." Louisa richtete ihren Blick in die sternenklare Nacht. „Ich erwarte spannende Gespräche und gutes Essen. Weder das Tanzen noch die Musik erfreut mein Herz mehr." Lady Helen Tilbury schnaubte verächtlich. „Dabei bist du eine hervorragende Tänzerin, das Talent wurde dir bereits in die Wiege gelegt. Versprich mir wenigstens einen Tanz auf deiner Karte zu verewigen." bat sie ihre jüngste Tochter und Louisa beschloss ihrer Mutter diesen Wunsch zu erfüllen. Ein Tanz würde ihr sicherlich die Freude nicht nehmen, doch sie würde eine genauste Auswahl an möglichen Partnern treffen. Schließlich sollte dieser besondere Tanz nicht an den Erstbesten verschwendet werden.
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Liebe und Verstand
Historical FictionDem zukünftigen Mann der Schwester zu verfallen, schickt sich nicht für eine Dame ihres Standes. Dessen ist sich Louisa Tilbury bewusst, doch die tiefblauen Augen von Sir Edward Pembroke bringen die junge Frau immer wieder um den Verstand. Dass ausg...