Kapitel 33 - Unerwartete Wendung

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Man sollte meinen die Scham oder die Schuld bahnte sich ihren Weg durch die Schlafzimmertür, über die knarzenden Holzdielen, bis zur Bettkante hinauf, direkt in Louisa's Gemüt. Doch nichts dergleichen konnte ihre Stimmung trüben. Stumm lag die junge Miss Tilbury unter dem weichen Leinen und starrte zur Decke hinauf, die mit kunstvollen Verzierungen bestückt war. Ihre Hand ruhte auf dem Stück Haut, knapp über ihrem Unterleib, welches Sir Edward Pembroke's Lippen erst vor wenigen Stunden bedeckt hatten. Ein Kribbeln breitete sich in ihrem Körper aus, kitzelte sie wie das frische Gras im wehenden Wind, zuhause, in Waterlilies Park. Plötzlich überkam sie eine Sehnsucht nach diesem friedlichen Ort. Louisa schloss die Augen und stellte sich vor, wie die Sonne ihr Gesicht wärmte, eine sanfte Sommerbrise durch den Stoff ihres Kleides fuhr und Edward's Finger sich in ihren Locken verhakten.

Stattdessen konnte die junge Frau zwischen den halb geöffneten Gardinen die Eisblumen erkennen, die sich auf dem Fensterglas abzeichneten. Die Winterzeit in der Metropole Englands erreichte in dieser Nacht scheinbar ihren Höhepunkt und Louisa bildete sich sogar ein, dass die Wände eine unnatürliche Kälte ausstrahlten. Doch nichts konnte die Wärme verscheuchen, die sich wohlig in ihrer Brust ausgebreitet hatte, seitdem Edward mit seinen weichen Händen jede erdenkliche Stelle ihres Körper berührt und geküsst hatte. Ein Seufzen entwischte ihr. Die Gedanken an den Verlobten ihrer Schwester waren verboten, Louisa war sich einer Sache nie sicherer, trotzdem dürstete es sie nach jenem sündhaften Geschmack, der sich ihr anbot. Jeder Tropfen des verräterischen Gifts machte sie süchtiger nach Edward. Und sie konnte sich diesem teuflischen Kreislauf nicht entziehen.

Der Schlaf wollte nicht einsetzen und die junge Miss Tilbury wälzte sich hin und her. Es brachte nichts, ihre Gedanken beschlossen nicht zu ruhen, sondern sich wie ein Karussell umeinander zu drehen. Kurzentschlossen schlug Louisa die Decke zurück und schritt zu der Fensterbank. Vorsichtig schob sie die schweren Vorhänge beiseite, bevor sie auf die weichen Kissen niedersank und ihren Blick durch das Fenster über die Straße streifen ließ. Die Laternen warfen noch immer ihr spärliches Licht über die gepflasterten Wege, doch die Dunkelheit brachte einige düstere Ecken zum Vorschein, deren Geheimnisse im Verborgenen blieben. Eine einzelne Kutsche rauschte über die Straße, das Klappern der Pferdehufe hallte hundertfach von den Häuserwänden wieder. Louisa konnte sich kaum vorstellen, wer zu dieser späten Stunde und bei dieser eisigen Kälte, die sie selbst durch das geschlossene Fenster zu spüren schien, noch einen Fuß vor die Haustür setzte.

Schließlich erweckte eine weitere, schwarze Kutsche, gezogen von kräftigen braunen Pferden die Aufmerksamkeit der jungen Miss Tilbury. Das Gespann hielt vor dem Haus der Pembrokes und im spärlichen Licht der Laternen erkannte die junge Frau einen älteren Mann in einem graubraunen Mantel und einer ledernen Tasche in der Hand. Er erinnerte sie an Doktor Willcock aus Somerset, der sie einst untersuchte, als Louisa Tilbury in ihrer Kindheit an einem starken Fieber litt. Verwundert runzelte sie die Stirn. Was führte einen Arzt zu dieser Stunde in das Anwesen der Pembroke's? Hatte sich Mrs. Francesca Pembroke's Gesundheitszustand etwa wieder verschlechtert? Als die Tilbury's mit Edward und Georgiana Pembroke vom Savoy Theatre zurück kehrten, schien es ihr erheblich besser zu gehen. Lucy hatte sich aufopferungsvoll um ihre zukünftige Schwiegermutter gekümmert.

Angespannt lauschte Louisa in die Stille und machte tatsächlich eine gewisse Unruhe aus, die vom Flur in ihr Zimmer hinauf drang. Sie bildete sich ein, Mutter's Stimme zu hören. Neugierig schlich sie zur Treppe, die direkt ins Erdgeschoss des Anwesens führte und hielt den Atem an. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Litt ihre Mutter wieder an einem Leiden? Die Gespräche im Flur ebbten ab und schienen sich in den Salon zu verlegen, weshalb die junge Frau bedächtig die Treppen hinunter schlich und hinter dem Geländer in die Knie ging. Glücklicherweise versteckte das üppige Muster aus eisernen Halbkreisen ihren durch das Salonlicht spärlich beleuchteten Körper. Vor Aufregung hielt sie die Luft an und spitzte die Ohren. Durch die Lücken im Geländer erkannte sie ihre Schwester Lucy, die in einem Sessel saß oder besser gesagt, lag, denn ihr Kopf rutschte von der Rückenlehne immer wieder auf ihre Schultern und ihre Füße schienen ebenfalls nicht genug Kraft aufzubringen, um sich gegen die Gravitation zu wehren.

Im Licht des brennenden Feuers im Kamin wirkte ihr zartes Gesicht merkwürdig blass. Schweißtropfen glänzten auf ihrer Stirn. Immer wieder presste sie den Handrücken gegen ihre Lippen, als müsste sie die drohenden Erzeugnisse ihrer Übelkeit zurückhalten. Lady Helen Tilbury schritt nervös auf und ab, die Hände in die Hüften gestemmt. Louisa lauschte angespannt auf die Worte des Arztes und sie schnappte immer wieder Fetzen wie Typische Anzeichen oder Es fängt immer auf diese Weise an, auf. Ein Schauer lief ihr Rückgrat hinab. Lucy schien schwer erkrankt zu sein. Plötzlich machte sich das schlechte Gewissen ihr breit. Wie selbstsüchtig hatte sie sich verhalten, sich ihren Gefühlen und Gelüsten für Edward, den Verlobten ihrer eigenen Schwester, hinzugeben, während Lucy offenbar körperliches Leid erlitt?

Fassungslos lehnte sie ihren Kopf gegen das kühle Gitter und lauschte weiterhin dem angeregten Gesprächen. Nun schwollen die Stimmen an, denn Lady Helen Tilbury meldete sich zu Wort. „Was meinen sie könnte meine Tochter befallen haben, Doktor Agar? Etwa eine Seuche? Kein Wunder bei diesem Gesindel, welches sich in den Gassen dieser Stadt herumtreibt!"Ihre Stimme zitterte. Lord Henry Tilbury schritt zu seiner Frau und zog sie an sich. Selbst ihm schien die Angst ins Gesicht geschrieben, was Louisa einen weiteren kalten Schauer über den Rücken jagte. Ihr Vater war ein Mann, der stets seine Fassung wahrte und nie seinen Emotionen die Überhand ließ. Der Arzt fuhr sich mit einem schwachen Lächeln durch das lichte, graue Haar. „Nein keine Sorge, ihre Tochter leidet keineswegs an einer ansteckenden oder gar tödlichen Krankheit. Natürlich sind die Symptome keineswegs zu unterschätzen und sie haben mich keine Minute zu spät rufen lassen."

Ein Schniefen drang aus dem Salon an Louisa's Ohr. Lady Helen Tilbury wurde von ihren Gefühlen übermannt. Leise schluchzend vergrub sie ihr Gesicht in der Brust ihres Mannes, der ihr beruhigend über das Haar strich und in der jungen Miss Tilbury wurde eine Erinnerung aus ihrer frühen Kindheit hervorgerufen, als die Glückseligkeit stets Einkehr in Waterlilies Park genoss. Der Moment erschien ihr so intim, dass Louisa den Blick auf ihre nackten Füße senkte. Lucy's plötzliches Aufstöhnen richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen im Salon. Lady Helen Tilbury hatte sich über ihre ältere Tochter gebeugt und strich ihr sanft durch das feuchte Haar. „Wo ist Edward?"fragte sie ihren Mann. Lord Henry Tilbury ging vor Lucy auf die Knie und umfasste ihre schlaffen Hände. „Er schläft, Liebes und ich denke das ist auch gut so. Edward sollte sich nicht unnötig sorgen." Lady Helen Tilbury kniff die Augen zusammen. „Unnötig sorgen? Henry, unsere Tochter ist womöglich dem Tode nah."

Louisa zog scharf die Luft ein, doch atmete beruhigt wieder aus, als sich der Arzt zu Wort meldete. „Oh keinesfalls Lady Tilbury, ihre Tochter ist mehr als lebendig. Doch ihre gewissen Umstände machen ihr zu schaffen, sie ist zu schwach, ich bin mir sicher, dass sie zu wenig isst, was gefährlich werden könnte."erklärte er vorsichtig. Lady Helen Tilbury blickte den älteren Mann verständnislos an. „Wollen sie mir etwa weiß machen, dass ich meine Tochter verhungern lasse?" Der Zorn bebte in ihrer Stimme und wieder einmal bewunderte Louisa den Stimmungswechsel, den ihre Mutter innerhalb kürzester Zeit durchlebte. „Das war niemals meine Absicht und ich bitte untertänigst um Verzeihung, sollten meine Worte sie gekränkt haben. Doch sie sollten nicht vergessen, dass Miss Tilbury's Umstände all ihre Kräfte fordern, weshalb es wichtig ist, dass sie ausreichend und nährstoffreich versorgt wird."beschwichtigte der Arzt.

Lord Henry Tilbury richtete sich verwirrt auf. „Was meinen sie mit Umständen?"
Nun sah Doktor Agar verwundert in die Runde. „Nun sie wissen es nicht?"fragte er. Lucy Tilbury gab erneut ein unverständliches Murmeln von sich und versuchte sich aufzurichten. Dabei drohte ihr Kopf zur Seite zu fallen, weshalb ihre Mutter rasch die Arme um ihre ältere Tochter schlang und sie an ihre Brust drückte. Dann richtete sie die Aufmerksamkeit auf den Arzt. „Was wissen wir nicht, Doktor Agar?"
Der ältere Mann rang sichtlich mit den richtigen Worten und knetete nervös die Hände. Währenddessen murmelte Lucy weiter vor sich hin. Als die Worte des Arztes schließlich an Louisa's Ohr drangen, schlug sie sich reflexartig die Hand vor den Mund, um einen Aufschrei der Überraschung zu vermeiden.

„Ihre Tochter, Lord und Lady Tilbury, erwartet ein Kind."

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 26 ⏰

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