Der Tag wich der Nacht. Die Sonne erklomm den Horizont, bevor sie hinter den Wäldern wieder in den Schlaf sank. Sechs Monde strahlten am Himmel, bis sich Louisa's Genesung anbahnte. Zuerst verging der Fieberwahn, dann kehrte ihr Geist in die Realität zurück. Das Lachen verließ wieder ihre Lippen. Ihre helle Stimme erfüllte den Raum. Nach acht Monden, verließ sie wieder das Bett, trank Tee, aß reichlich Suppe und Fleisch, um das verlorene Gewicht auf ihren Knochen zurück zu gewinnen. Als sich der September dem Ende neigte, verließ sie das Anwesen und genoss einige Spaziergänge in der herbstlichen Sonne. Natürlich nur in Begleitung ihrer engsten Freundin Lady Diana Stanford und ihrer älteren Schwester Lucy Tilbury.
Sir Edward Pembroke suchte einige Male nach ihrer Aufmerksamkeit, konnte mit ihr jedoch nie in Zweisamkeit sprechen, da sich ihre selbst ernannte Leibgarde ständig um sie herum befand. Seine Gefühle für sie wurden tagtäglich stärker. Seit ihrer Erkrankung und dem damit verbundenen Bangen um ihre Gesundheit, spürte er bei ihrem Anblick wiederholt ein heftiges Ziehen in der Brust, dass ihn beinahe um den Verstand brachte. Zu gern wollte er in ihre warmen Augen blicken, das freundliche Lächeln auf ihren Lippen sehen und ihren süßen Duft nach Maiglöckchen in der Nase spüren. Ihr Geruch erinnerte ihn an eine mit Blumen übersäte Frühlingswiese, wo sich Bienen und Hummeln um den heiß ersehnten Nektar stritten.
Der Oktober brach mit seinen bunten Farben und dem kühlen, schneidenden Wind über Somerset ein. Das Grün der Blätter wich einem Rostrot. Tau legte sich über die Gräser und Büsche. Der Himmel färbte sich grau, verlor den letzten Rest seines reinen Blau. Auch die Stunden des Sonnenscheins waren nun gezählt. Die Tage wurden kürzer, die Nacht länger und unbarmherziger. Mit der Zeit häuften sich die Wochen, die die Familie innerhalb des Anwesens von Waterlilies Park verbrachte. Reichlich Tee wurde gekocht und Gemüsesuppe mit zartem Rindfleisch aufgetischt. Die jungen Herrschaften der Familie sahen sich zunehmend im Käfig der Langeweile gefangen.
Louisa Tilbury vermisste die langen Spaziergänge durch den Park, bis zum Teich und dem angrenzenden Pavillon. Die ständige Nähe zu ihrer Familie bereitete ihr zwar einerseits Freude, andererseits ertrug sie die trägen Gespräche über den Klatsch und Tratsch der Grafschaft nicht lang. Lady Barton ließ es sich nicht nehmen, den befreundeten Herrschaften tagtäglich einen Besuch abzustatten, um das neuste Geflüster weiterzutragen. So machte das Gerücht die Runde, der neue angesehene Nachbar, Mr. Arthur Egerton würde einen Herbstball in seinem herrlichen Anwesen Heathermoore Abbey abhalten. Für Lucy Tilbury kam diese Nachricht wie gerufen.
Aufgeregt sprang sie vom gedeckten Mittagstisch auf und klatschte begeistert in die Hände. Ihre Mutter wies die ältere Mrs. Tilbury an, ihre guten Manieren nicht zu vergessen. Doch die Freude über das bevorstehende Ereignis blitzte auch nach der Rückkehr zu ihrer Gemüsesuppe in ihren Augen auf. Euphorisch griff sie nach der Hand ihrer jüngeren Schwester und drückte sie fest. „Oh Louisa! Das ist genau die richtige Ablenkung nach deiner langen Krankheit. Endlich können wir diesem stickigen Haus entkommen und wieder tanzen und feiern, als würde uns das dunkle Grau des Oktobers nichts anhaben können." Die junge Mrs. Tilbury ließ sich nur leicht von der Vorfreude ihrer Schwester anstecken. Bälle und Soireen gehörten noch nie zu ihrer Leidenschaft. Im Gegenteil, Louisa liebte die tristen Herbsttage, da sie sich die Zeit in der Bibliothek ihres Vaters vertreiben konnte.
„Oh Edward, was sagst du zu dieser berauschenden Neuigkeit? Vor wenigen Wochen haben wir neue Ballkleider in Auftrag gegeben und nun bekommen wir endlich die Möglichkeit sie zu tragen, wo die Londoner Gesellschaft nun noch immer nicht um unsere Aufwartung bat." Lady Allen, die gute Freundin der Tilbury's aus der Metropole Englands, hatte sich bisher noch nicht über jegliche Einladungen zu Bällen in London geäußert. Lucy Tilbury wartete jeden Tag auf Nachricht und mit jeder weiteren Woche ohne Post von ihrer Gönnerin, schwand ihre Hoffnung, dem pumpenden Herzen England's einen erneuten Besuch abzustatten.
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Liebe und Verstand
Historical FictionDem zukünftigen Mann der Schwester zu verfallen, schickt sich nicht für eine Dame ihres Standes. Dessen ist sich Louisa Tilbury bewusst, doch die tiefblauen Augen von Sir Edward Pembroke bringen die junge Frau immer wieder um den Verstand. Dass ausg...