Es verging eine halbe Ewigkeit, die Louisa zwischen den Dünen hockte. Die Gräser, die sich sanft im Wind wogen, streiften ihren langen Rock und kitzelten ihre Wange. Das Salz der Meeresbrise legte sich prickelnd auf ihr Gesicht. Obwohl ihr Blick auf die weite See gerichtet war, die das stählerne Grau des Himmels angenommen hatte, schweiften ihre Gedanken weit fort. Es mussten mehr als zwei Stunden vergangen sein, seit Sir Edward Pembroke den Strand von Berrow fluchtartig verlassen hatte. Selbst seine Spuren hatte der Wind inzwischen mit sich getragen. Das Chaos der Gefühle in Louisa's Innerem blieb jedoch zurück. Sie fühlte sich hin und hergerissen, inmitten der Fronten zwischen Liebe und Verstand. Das Kitzeln seiner Locken auf ihrer Haut und seiner warmer Atem in ihrem Gesicht hatten ausgereicht, um ihren Herzschlag um ein Vielfaches zu erhöhen. Gleichzeitig wurde dieses pumpende Organ von einer unsichtbaren Kraft unaufhaltsam in die Tiefe gezogen. Louisa musste sich schmerzlich eingestehen, dass nicht einmal das zarte Kitzeln der Windes ihren inneren Sturm besänftigen konnte.
Seufzend richtete sich die junge Frau auf, strich den grünen Baumwollstoff glatt und strich durch ihr halb offenes Haar, deren Strähnen durch den aufkommenden Wind inzwischen verknotet waren. Am Hang der Cliffs hoch über dem Strand, dessen Schopf mit saftigem grünen Gras bedeckt war, entdeckte sie eine Gruppe von Männern und Frauen, die sie rasch als ihre Familie und Freunde erkannte. Eilig erklomm sie die Dünen und weitläufigen Grasflächen hinter dem Strand.
„Louisa! Da bist du ja, wir haben dich beim Frühstück vermisst." Lucy eilte auf ihre jüngere Schwester zu und nahm deren kleinen Hände in ihre. Auch die restlichen Herrschaften richteten nun ihre vollste Aufmerksamkeit auf die Schwestern. Louisa's Blick blieb an Edward haften, der allerdings völlig vertieft in den Anblick des Meeres schien. „Verzeih mir liebe Lucy, ich verspürte heute Morgen keinen Hunger." richtete die junge Mrs. Tilbury die Worte an ihre ältere Schwester. Lucy sah sie mit ihren großen Rehaugen besorgt an. „Aber du musst etwas essen, sonst schwinden deine Kräfte, vergiss nicht, die Krankheit hat dir viel abverlangt."
Louisa konnte die ältere Mrs. Tilbury überzeugen, dem gemeinsamen Mittagessen beizuwohnen und ihr aufgebrachtes Gemüt somit zu beruhigen. Dann hakte sie sich bei ihr unter und sie schritten gemeinsam über die Hügel, hinunter bis zum Strand, gefolgt von den restlichen Herrschaften. Inzwischen wurde das Meer stürmischer. Der Wind bauschte die Wellen auf, die schäumend im Sand verflossen. Das Rauschen hörte sich bedrohlich an, wie das Grollen eines Riesen aus einem der Märchenbücher, die Louisa früher als Kind so geliebt hatte. Das sanfte Grau der See wich einem dunklen Schwarz, welches die Farbe des Himmels widerspiegelte, an dem dicke, tiefhängende Wolken entlangzogen, die ein großes Unwetter vorhersagten. Seufzend richtete Lady Barton ihre Haube. „Oh hoffentlich halten die Wolken den Regen noch ein Weilchen zurück, sodass wir bis zum Mittagessen die frische Luft genießen können. Sie ist so wohltuend für meine Knochen." Lady Helen Tilbury nickte zustimmend und zog den Wollschal enger um ihre Schultern.
„Nun die Gentleman, was halten sie von einem Ausritt entlang der Klippen, wenn sich das Wetter nicht verschlechtert?"schlug Lord Cecil Stanhope vor. Lord Henry Tilbury lehnte dankend mit einem Wink auf sein Knie ab. Sir Edward Pembroke hingegen stimmte mit einem breiten Lächeln zu. „Das hört sich nach einer wundervollen Idee, werter Freund." Unaufhörlich sah sich Louisa in die Vergangenheit zurück versetzt und den folgenschweren Reitunfall wieder erlebend, der sie wochenlang ans Bett fesselte. Noch immer verspürte sie leichte Schmerzen in ihrem Rückgrat, wenn sie nur an den grausamen Sturz dachte. Gleichzeitig breitete sich ein wildes Kribbeln und Flattern in ihrer Brust aus, bei dem Gedanke an die gemeinsamen Stunden mit Sir Edward Pembroke in dem alten Pavillon am Rande des Waldes. Ein kleines Lächeln schlich sich ungeahnt auf ihre Lippen, was Lady Diana Stanhope nicht entging, die an der rechten Seite von Louisa über den Sand stapfte.
„Liebe Freundin, welche Gedanken bereiten dir Freude?"flüsterte sie so leise, dass die rauschenden Wellen beinahe ihre Worte mit sich nahmen. Lucy, die an Louisa's linker Seite verweilte, hatte ihre Aufmerksamkeit voll und ganz auf die stürmische See gerichtet. „Nur ein paar schöne Erinnerungen an den Sommer."antwortete sie, das Grinsen noch immer ins Gesicht gemalt. Doch die junge Lady Stanhope gab sich mit dieser Antwort nicht zufrieden. Sie ließen die Herrschaften an sich vorbeiziehen und folgten nun als Schlusslichter mit gehörigem Abstand dem Gefolge. „Dieses Lächeln, liebste Freundin, zeugt nicht von schönen Erinnerungen sondern von wildem Herzklopfen und einem unbändigen Gefühl der Liebe in der Brust." Die junge Mrs. Tilbury bewunderte immer wieder die überaus grandiose, menschliche Intuition mit der Diana gesegnet war. Keine Maske konnte sie davon abhalten, in das tiefste Innerste eines jeden Menschen vorzudringen. Sie würde sicherlich eine erfolgreiche Detektivin abgeben.
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Liebe und Verstand
Historical FictionDem zukünftigen Mann der Schwester zu verfallen, schickt sich nicht für eine Dame ihres Standes. Dessen ist sich Louisa Tilbury bewusst, doch die tiefblauen Augen von Sir Edward Pembroke bringen die junge Frau immer wieder um den Verstand. Dass ausg...