Kapitel 28 - Unter den Sternen

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Die Dunkelheit kroch durch die Ecken und Fugen, lauerte hinter den Möbeln und streckte ihre Klauen nach Louisa aus. Die junge Frau lag regungslos in ihrem Bett, ihr Blick bohrte sich in die Decke über ihrem Bett. Durch die düstere Nacht, schien das fremde Zimmer unendlich groß zu wirken. Ein kühler Lufthauch zischte durch die undichten Fensterläden, die immer wieder ein leises Klappern von sich gaben, wenn der Wind an den Baumwipfeln hinter dem Herrenhaus rüttelte.

Das Geschehen des Nachmittags spielte sich immer wieder in ihrem Kopf ab, wie ein Buch, welches sie nun zum wiederholten Mal las und auswendig mitsprechen konnte. Bei dem Gedanke an Edward's intensiven Blick stieg ihr die Hitze in die Wangen. Der unbeschreibliche Drang, ihrem Wunsch nachzugeben und ihre Lippen auf seine zu pressen, in seinen Armen zu versinken, übermannte sie. Doch die leise Stimme, tief verborgen in ihrem Kopf brannte ihre Worte in Louisa's Ohren: Deine Gedanken sind verboten, deine Liebe zu Edward ist verboten.

Louisa fühlte sich abscheulich, dass es ihr gleichgültig war, dass sie den zukünftigen Mann ihrer Schwester so intensiv liebte, wie der Mond die Sonne in der Nacht. Ihr Blick wanderte zu dem hellen Kreis am Himmel, der sich aus der Dunkelheit erhob, umtanzt von zarten Sternen. Es brachte nichts, die Müdigkeit würde keine Einkehr in ihr Gemüt finden und so schlug die junge Miss Tilbury ihre Decke zurück und schlüpfte aus dem warmen Bett. Sicherlich reinigte die frische, kühle Winterluft ihre wüsten Gedanken.

Sie griff nach einem Wolltuch, schlang es sich um die Schultern und öffnete so leise wie möglich die Zimmertür. Der Flur lag dunkel und still vor ihr. Kein Geräusch drang aus den anderen Zimmern, kein Kerzenschein erhellte die Gänge. Auf Zehenspitzen schlich Louisa durch das Herrenhaus der Familie Pembroke, stieg die Stufen hinab und verschwand schließlich durch die Tür hinter der Küche in den Garten hinaus. Die Nacht tauchte die Rosenhecken in Dunkelheit. Ein zarter Schleier aus Frost hatte sich über die Blätter und Dornen gelegt, wie ein Schutz. Louisa fror, ihre Zähne klapperten und sie zog das Wolltuch enger um ihren Körper. Um nicht zu einer Statue zu gefrieren, beschloss sie, sich ein wenig die steifen Füße zu vertreten und schritt behutsam über das feuchtnasse Gras, begleitet vom Singen des schneidenden Windes.

Hinter einer Birke, die majestätisch wie ein Riese in den Nachthimmel ragte und ihre Äste schützend vor dem Anwesen ausbreitete, kam sie zum stehen und lehnte sich gegen die kalte, raue Rinde. Ihr Blick glitt zu den Sternen, deren leichtes Flackern an die Kerzen in Louisa's Zimmer erinnerten. Gerade als sie tief in Gedanken versank, durchbrachen Schritte die Stille der Nacht. Louisa fuhr erschrocken zusammen und presste sich gegen den Stamm der Birke. Im Mondschein erkannte sie eine Silhouette hinter den Rosenhecken. Ob es sich dabei um einen Mann oder eine Frau handelte, konnte Louisa nicht erkennen, doch die Haltung und der Gang erinnerten eher an einen Mann. Gerade als sich der Fremde in ihre Richtung drehte, erkannte sie die goldenen Locken im weißen Licht. Ohne über ihr Vorhaben nachzudenken trat Louisa hinter dem Baum hervor. Ihre Stimme schnitt durch den Wind.

„Edward?"

Tatsächlich blieb Sir Pembroke einen Augenblick später vor ihr stehen. Seine struppigen, blonden Locken zeugte von einem unruhigen Schlaf.
„Louisa, was tust du hier mitten in der Nacht?"fragte er mit leiser Stimme, als hätte er Angst, der Wind würde seine Worte mit sich nehmen und ihn verraten. „Ich konnte nicht schlafen."antwortete die junge Miss Tilbury und umfasste ihren Oberkörper.

„Dann sind wir wohl schon zwei."

„Was hat dich wachgehalten?"

Statt zu antworten umfasste Edward mit kühlen Händen Louisa's Gesicht. Ein Schauer kroch ihren Rücken hinab. „Meine Gedanken kreisen nur um dich. Jede Faser meines Körpers ruft deinen Namen." flüsterte er mit erstickter Stimme, so nah an ihren Lippen, dass Louisa die Luft wegblieb. Ihr Herz hämmerte so laut, dass selbst der heulende Wind das Schlagen nicht übertönen konnte. „Ich liebe dich, mehr als jedes Gedicht es beschreiben könnte." fügte Edward noch hinzu, seine Daumen strichen über ihre Wangenknochen und die trocknen Lippen. Louisa's Brust zog sich schmerzvoll zusammen. Tränen stiegen ihr in die Augen. Tränen der Erkenntnis.
„Ich muss auch ständig an dich denken, es macht mich verrückt."hauchte sie ihm mit brüchiger Stimme entgegen. Doch die Erinnerung an das stumme Versprechen, welches sie Georgiana, Lucy und ihr selbst gab, tauchte so plötzlich in ihrem Kopf auf, dass die Welt um sie herum für einen kurzen Moment verstummte. Eine Träne rann ihr über die Wange, zerplatzte, als sie auf Edward's Finger traf.

„Aber wir dürfen das nicht tun Edward, es ist falsch." Sacht löste sie seine Hände von ihrem Gesicht. Die Worte trafen ihn wie ein Fausthieb, seine Züge entgleisten und im hellen Mondlicht wirkte er plötzlich aschfahl. „Sag das bitte nicht..."fing er an, doch die junge Miss Tilbury schüttelte stumm den Kopf. „Doch Edward, so schmerzvoll es sein mag. Ich muss die Wahrheit aussprechen, denn es ist das einzig Richtige. Ich möchte dir nicht wehtun, doch genauso wenig möchte ich meiner Schwester wehtun. Sie liebt dich." Auch wenn ihr Herz in tausend Teile zerbrach, verlieh ihre Stimme den Worten Nachdruck.

Edward's Augen bohrten sich in Louisa's, suchten nach einem Rest Hoffnung für sie Beide. Schließlich senkte er die Augenlider, als hätte die Müdigkeit von ihm Besitz ergriffen. „Ich wusste nie was Liebe ist, ich kannte sie nur aus Büchern, dieses Gefühl von den ersten Sonnenstrahlen im Gesicht nach einem langen Winter, dem süßen Geschmack von Konfitüre auf der Zunge oder dem Geruch von frischer Erde nach einem Gewitter. Doch nun weiß ich, was die Dichter in ihren Werken niederschreiben, welche Gefühle sie verfolgen, welche Gedanken sie hegen, warum sie ihr Herz getrost in die Hände ihrer größten Liebe legen. Denn ihnen hat es schon immer gehört, genau wie dir Louisa schon immer mein Herz gehört hat."

Nun rannen Louisa's Tränen unaufhörlich über ihre Wangen, tropften auf das feuchtnasse Gras nieder. „Bitte sag so etwas nicht."flüsterte Louisa zwischen erstickten Schluchzern. „Lucy sollte dein Herz gehören, sie würde gut darauf aufpassen. Ich würde es nur zerbrechen."
Edward lächelte Louisa so warmherzig an, dass der Boden unter ihren Füßen schwankte. „Und wenn du es tausendmal zerbrichst, ich würde es niemand anderem anvertrauen."
In diesem Moment brachen die Gefühle endgültig aus ihr heraus. Sie wandte sich ab und schritt an Edward vorbei, doch seine Hand um ihren Oberarm hielt sie fest. Sie sahen sich an, unter dem weißen, reinen Licht des Mondes, unter einem Zelt von tausend Sternen.

„Louisa, ich bitte dich..."Edward's Stimme brach ab. „Ich kann nicht, verzeih mir, ich kann meiner Schwester nicht wehtun. Wenn ich meine Gefühle für dich zulassen würde, verliere ich sie. Das kann ich nicht zulassen, auch wenn es bedeutet, dass ich unsere Herzen breche. Bitte gib dein Herz Lucy, sie wird es hüten wie einen Schatz."
Edward wandte den Blick ab, doch Louisa entging der Schleier über seinen blauen Augen nicht. Es schnürte ihr die Brust noch enger zusammen. Nach einem unendlich langen Moment der Stille, die schwer auf ihnen lastete, hob Edward wieder zum Sprechen an.

„Ich bitte dich, bevor du gehst, schenke mir einen letzten Kuss, damit ich sicher sein kann, dass es echt war, dass ich es mir nicht eingebildet habe."

Louisa zögerte, schließlich hatte der Kuss in Waterlilies Park diesen Gefühlssturm erst verursacht. Würde ein Abschiedskuss diesen Sturm beenden können? Ein Blick in seine Augen und Louisa wusste, dass sie ihm den Wunsch nicht abschlagen konnte. Langsam zog Edward die junge Frau an sich heran, strich ihr eine braune Locke hinter das Ohr und fuhr mit dem Daumen über ihre Wangenknochen. Der tosende Ozean in seinen blauen Augen zog Louisa in die Tiefe. Ihre Lippen trafen aufeinander, weich und warm, trotz der schneidenden Kälte. Überwältigt von dieser Intensität drückte sie sich an ihn, vergrub ihre Finger in seinen Locken, während er seine Hände fest um ihre Taille schlang, sie ganz für sich einnahm.

In diesem Moment waren ihre Herzen und Gefühle eins, ihre Gedanken kreisten um den selben Mittelpunkt, ihre Welten drehten sich im selben Takt unter dem Zelt tausender, leuchtenden Sterne.

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