Kapitel 23 - Gewinn

231 20 0
                                    

Der letzte Oktobertag begrüßte Somerset mit einem kühlen, durchnässten Morgen, an dem der Nebel schwer über den Wiesen und Hügeln lag. Die Wolken hingen tief vom Himmel, als wären sie mit Eisen beladene Kutschen. Das trübe Wetter verdüsterte Louisa's Laune. Seufzend verfolgte sie einen Regentropfen, der eine nasse Bahn über die gläserne Fensterscheibe zog, bis er schließlich im Holzwinkel des Rahmens verschwand. Während der Schlechtwettertage schien die Zeit kein Stück vergehen zu wollen. Die Vögel hatten ihre Heimat bereits verlassen und die Farben der englischen Landschaft mit sich genommen. Verträumt dachte Louisa an die Orte, die ihre gefederten Freunde nun besuchen konnten, gemeinsam, in ihrem Schwarm, wo jeder für den anderen da war. Die Wissenschaft hatte noch nicht genug Forschungen betrieben, die bewiesen, wann die Vögel England verließen, wo sie sich während des unbarmherzigen, langen Winters aufhielten und schließlich in den ersten Märztagen zurückkehrten.

Louisa spürte die eisige Kälte, die durch jede Fuge in den Wänden und Dächern des Anwesens in das Innere drang. Wie eine kalte Klaue packte sie Louisa's Arme und hinterließ eine Gänsehaut. Zitternd zog sie die Decke enger um ihre Schultern. Die Wolle kratzte auf ihren Schultern. Der Geruch nach Weihrauch und Lavendel stieg ihr in die Nase und bereite die junge Frau unweigerlich auf die folgenden, düsteren Zeiten vor. Aus der Küche ertönte Scheppern, was Louisa darauf schließen ließ, dass Bridget das Mittagessen vorbereitete. Der dunkle, verhangene Himmel verschaffte ihr jedoch eher das Gefühl, dass die Nacht bereits anbrach. Vor wenigen Tagen waren die Stanhope's abgereist. Diana's Abwesenheit setzte der jungen Mrs. Tilbury zu. Sie vermisste ihre treue Freundin, die ihr mit Rat und Tat immer zur Seite stand. Nun war sie gezwungen mit ihrer hysterischen Mutter Lady Helen Tilbury, ihrer älteren Schwester Lucy und dem Mann, der ihr Herz unweigerlich höher schlagen ließ: Sir Edward Pembroke, auf engsten Raum zu wohnen. Ihr Vater hatte sich seit Wochen kaum noch blicken lassen, da ihm die Geschäfte im hohen Norden gerade während der kalten Jahreszeit viel Arbeit abverlangten. Im mageren Winter schafften es die Arbeiter kaum, die Baumwollbetriebe am Laufenden zu halten, da sie mit Hungersnot und Tod konfrontiert wurden. Diese Vorstellung ließ Louisa's Herz tiefer sinken. Auf einmal fühlte sie sich schlecht, über das Wetter zu klagen, weil sie nicht in Waterlilies Park spazieren gehen konnte, während die Menschen im Norden England's um ihr Leben und das ihrer Kinder fürchten mussten.

Um sich abzulenken, beschloss sie den Salon aufzusuchen, mit einem Buch in der Hand, welches sie sicherlich schon mehr als zehn Mal gelesen hatte. Statt allein am brennenden Kamin zu sitzen, traf sie jedoch Edward, der im Sessel saß, den Kopf auf den Handballen gestützt und ebenfalls in einem Buch las. Die Wunder der Astronomie, erkannte Louisa. Als er ihre Anwesenheit bemerkte, setzte er sich unweigerlich auf und schien die Luft anzuhalten. „Louisa, es freut mich dich zu sehen." Das Herz der jungen Mrs. Tilbury schlug einige Takte höher und sie wägte die Auswahlmöglichkeiten ab, Edward Gesellschaft zu leisten oder in ihr Zimmer zurück zu kehren, wo sie mit ihren Gedanken wieder allein sein würde. Sie glaubte, in der ersten Variante die Bessere zu finden. „Ich hoffe es stört sie nicht, wenn ich mich mit einem Buch zu ihnen setze." Edward schüttelte eilig den Kopf, was seine blonden Locken zum Schwingen brachte und deutete auf das gegenüberliegende Sofa, wo sich Louisa vorsichtig niederließ und den Rock ihres schweren Baumwollkleides glatt strich.

Als könnte das Hausmädchen ihre Gedanken lesen, brachte Bridget zwei Tassen Tee mit frisch duftendem Kräutertee, dessen Dampfschwaden tanzend in die Luft aufstiegen. „Wünschen die Herrschaften noch etwas?"fragte sie und kehrte in die Küche zurück, nachdem Louisa und Edward verneinten. Dann widmeten sie sich ihren Büchern und eine schwere Stille legte sich über die Möbel des Salon's. Lediglich das Knistern der Flammen im Kamin, ließ das Zimmer leben. Aufmerksam versuchte die junge Mrs. Tilbury die Textzeilen der Kapitel zu verfolgen, ihre Gedanken schweiften allerdings immer wieder ab und sie erwischte sich des Öfteren dabei, wie sie über den Rand des Buches, zu Sir Pembroke hinüber starrte. Einmal trafen sich für einen kurzen Augenblick ihre Blicke, die sie eilig wieder auf die beschriebenen Seiten senkten. Louisa's Wangen brannten vor Hitze, trotz der Kälte im Salon. Nach dem sie schier mehr als eine halbe Stunde an einer Seite festhing, als hätte sie klebrigen Honig an den Fingerspitzen, legte sie seufzend das Buch zur Seite und faltete die Hände im Schoß.

Liebe und VerstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt