Der nächste Morgen weckte die Tilbury's mit tiefhängenden, grauen Wolken und einem kühlen Herbstwind. Die Baumwipfel der Birken und Buchen wogen sich im leichten Sturm wie ein Wiegelied. Kein Vogelzwitschern drang durch den Klang des Tosens. Louisa lehnte ihren Kopf gegen die Fensterscheibe, der Roman in ihrem Schoß halb geöffnet. Immer wieder schweiften ihre Gedanken in die Vergangenheit. Der Besuch in Lady Swan's Schneiderei lag nur wenige Tage zurück, doch noch immer überkam Louisa eine Gänsehaut bei dem Gedanke an die intime Szene im Geschäft der angesehenen Dame. Einerseits fühlte sie sich schlecht, solche Gefühle für den Verlobten ihrer Schwester zu hegen, andererseits konnte sie das heftige Herzklopfen in seiner Nähe nicht leugnen.
Seufzend lenkte die junge Mrs. Tilbury ihren Blick wieder auf die Zeilen der Seiten. Ihre Augen folgten zwar den Worten, doch in ihrem Kopf ergaben sie keinen Sinn. Es brachte nichts. Gedankenlos schloss sie den Roman und legte ihn zurück ins Regal, welches vor Büchern beinahe überquoll. Bei Gelegenheit musste sie ihren Vater unbedingt um eine weitere Unterbringungsmöglichkeit ihrer Schätze bitten. Lady Tilbury würde es wahrscheinlich lieber sehen, wenn sich Louisa von den Büchern trennte, aber das brachte die junge Dame nicht übers Herz.
Gerade als Louisa die Tür öffnen wollte, um in den Treppenflur hinaus zu treten, kam ihr Lady Stanhope zuvor. Mit einem breiten Lächeln riss sie die Zimmertür auf und begrüßte ihre Freundin mit einem Kuss auf die Wange. „Liebes, wieso ziert dein Gesicht ein derart trister Ausdruck?" Diana umgriff liebevoll ihre schmalen Schultern. „Hast du nicht das Wetter draußen gesehen, werte Freundin? Da muss man ja schlechte Laune bekommen."
Doch die blonde Dame schüttelte nur ungläubig den Kopf. „Du lässt dir von diesen winzigen Wolken das Lächeln rauben? Na los, schnapp dir dein Jäckchen und deine Haube, wir gehen spazieren. Hier drin gehst du mir nur ein wie ein trockener Rosenstock."Auch wenn Diana Louisa mit ihrer Euphorie nur merklich anstecken konnte, kam die junge Mrs. Tilbury dem Wunsch ihrer Freundin nach, schlüpfte in das blaue Jäckchen und schnürte die neue Haube, die sie sich vor wenigen Tagen bei Lady Swan gekauft hatte, auf dem Kopf fest. Lady Stanhope wartete bereits im Eingangsbereich des Anwesens, das breite Lächeln noch immer auf ihren rosigen Lippen. Bridget putzte gerade die Küche, während im Wohnzimmer Lord und Lady Tilbury ihrer ältesten Tochter Lucy Gesellschaft leisteten. Als sie die gekleideten Damen erblickten, sprang Lady Helen Tilbury überrascht auf. „Meine lieben Damen, ihr wollt doch nicht bei diesem Wetter spazieren gehen?"
„Natürlich. Diese winzigen, harmlosen Wolken, halten uns nicht davon ab die Schönheit von Waterlilies Park zu bewundern."meinte Diana und hakte sich bei Louisa unter. Lady Tilbury konnte keinen Einwand mehr geben, denn die Freundinnen waren bereits durch die Tür verschwunden. Lucy's kühler Blick war Louisa nicht entgangen und ein Schauer wanderte unaufhaltsam ihren Rücken hinab. Als sie sich jedoch im Herzen der Birkenallee wiederfanden, entspannten sich ihre Muskeln ein wenig. Tatsächlich schnitt ihnen der Wind beinahe die Luft ab. Fröstelnd zog Louisa das Jäckchen enger um ihre Schultern und lehnte sich eng an Diana, die ebenfalls ein wenig fror. Trotzdem blieb die Euphorie in ihrem erhellten Gesichtsausdruck. Die junge Mrs. Tilbury betrachtete ihre Freundin von der Seite. Seitdem sie Lord Cecil Stanhope gehelicht hatte, verschwand der kindliche Ausdruck langsam aus ihrem Gesicht und Louisa musste sich eingestehen, dass Diana inzwischen zu einer erwachsenen Frau geworden war, zu der die junge Dame aufblickte. Nicht außer Acht gelassen, dass sich unter ihrem orangen Rock eine kleine Rundung abzeichnete. Vorfreude überkam Louisa, bei dem Gedanke, dass Diana in wenigen Monaten ein Kind zur Welt bringen würde.
Ihrer besten Freundin entging das plötzliche Lächeln auf Louisa's Lippen nicht. „Welche Gedanken schenken dir nun gute Laune, liebe Freundin? Doch nicht etwa die dunklen Wolken am Horizont?" Mit einem Kopfnicken deutete Diana auf den tiefgrauen Schweif hinter dem Buchenwald. „Nein, gewiss nicht. Nur die Vorstellung, dass du bald die Rolle einer Mutter einnimmst."
Mit einem verträumten Blick, starrte die junge Lady Stanhope in die Ferne. „Du glaubst garnicht, wie groß die Aufregung tief in meinem Inneren ist. Anfangs überkam uns die Angst, ich könnte keine Kinder bekommen, oh Louisa, wie schlimm war diese Zeit voll Ungewissheit, doch mein liebster Cecil hielt immer zu mir, genau wie seine gütige Mutter. Und eines Tages überkam mich plötzlich eine ungeheure Übelkeit, da wusste ich schon bevor der Arzt eintraf, dass dafür der kleine Hoffnungsschimmer in meinem Bauch verantwortlich war." Verstohlen wischte sich die junge Lady Stanhope eine Träne aus dem Augenwinkel.
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Liebe und Verstand
أدب تاريخيDem zukünftigen Mann der Schwester zu verfallen, schickt sich nicht für eine Dame ihres Standes. Dessen ist sich Louisa Tilbury bewusst, doch die tiefblauen Augen von Sir Edward Pembroke bringen die junge Frau immer wieder um den Verstand. Dass ausg...