Der Wind strich durch ihr offenes, braunes Haar. Louisa schloss genüsslich die Augen und atmete den salzigen Geruch nach Meer und Sand ein. Die Brise strich über ihre Arme, rauschte durch ihr Blut und nahm ihr die Last an Gedanken und Gefühlen von den Schultern, die sie versuchten zu Boden zu drücken. Ihre nackten Füße glitten durch den weichen, goldenen Sand, der sich warm und gleichzeitig kalt anfühlte. Lautlos schritt Louisa die Dünen hinab, bis ihre Zehen das eisige Nass berührten. Ein Schauer jagte ihr den Rücken hinunter, so blitzartig, dass sich eine Gänsehaut auf ihrem Körper ausbreitete. Dieser Moment fühlte sich so schwerelos an, dass sich Louisa wünschte er würde niemals enden. Hier in Berrow hatte sie das Gefühl, weit weg von allen Verpflichtungen zu sein. Hier musste sie keine feine Dame sein, die dem gesellschaftlichem Bild unterlag, hier war sie Louisa Tilbury, eine junge Frau, die den Geruch nach Meer und die Freiheit der Wellen liebte.
Eine vertraute Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Jemand rief ihren Namen. Louisa fuhr herum und blickte in die tiefblauen Augen von Sir Edward Pembroke, der elegant die Dünen hinunter glitt und auf sie zusteuerte. Ihr Herz klopfte augenblicklich vor Freude schneller. Sie raffte ihren Baumwollrock und stapfte durch den feuchten Sand auf ihn zu. „Edward, was tust du hier?" Sein Gesicht strahlte und seine vollen Lippen zierte ein breites Grinsen. „Ich wollte dich sehen, mein Herz hat keine Ruhe gegeben, ehe ich nicht endlich in deine tiefgründigen Augen sehen konnte." Seine Worte verursachten ein schwarmartiges Kribbeln in ihrem Bauch, welches drängte endlich auszubrechen. Edward griff nach Louisa's Händen und küsste zart die Oberfläche. Als er wieder aufblickte, hatte sich das Blau seiner weiten See in einen reißenden, stürmischen Ozean verwandelt und Louisa bildete sich ein, die tosenden Wellen in seinen Augen zu sehen. Seine weichen Hände glitten über ihre Oberarme bis zu ihren Wangen, wo sein Daumen sanft über ihre weichen Lippen strich.
Plötzlich überkam die junge Frau das unbändige Verlangen, Edward zu küssen, als würde ihr Leben davon abhängen. Der junge Mann schien das Selbe zu denken und senkte langsam seinen Kopf. Sein heißer Atem traf auf ihre Haut und Louisa atmete scharf ein. Auf einmal ließ sich das Kribbeln kaum noch bändigen, ihre Knie zitterten und die Welt um sie herum stand still. Dann trafen ihre Lippen aufeinander, verlangend, doch gleichzeitig hauchzart. Der Boden unter ihren Füßen schien einzubrechen, sodass Louisa ihre Finger verzweifelt in Edward's blondem Haar vergrub. Seine Hände legten sich um ihre Taille und drückten sie so nah an seinen bebenden Körper, dass die junge Frau ein merkwürdiges Ziehen in ihrem Unterleib verspürte. Der Wind von der See wurde stärker, wehte durch ihr Haar und ihre Locken kitzelten Louisa im Gesicht. Doch sie hatte sich bereits in dem Strudel aus Liebe, Verlangen und Sehnsucht verloren, der nun in ihr ausgebrochen war. Der Kuss dauerte eine Ewigkeit, die sich jedoch viel zu kurz anfühlte. Schweratmend trennten sie sich wieder voneinander und Edward's Augen trugen nun beinahe die Farbe von Pech.
Ihre Blicke verfingen sich, wie Fische in einem Netz. Keiner von ihnen sagte ein Wort, die Stille zwischen ihnen knisterte wie das Feuer in einem Kamin. Noch immer waren ihre Gesichter einander so nah, dass sich ihre Lippen mühelos ein zweites Mal berühren könnten. Louisa sehnte es danach. Doch ein Schrei riss die Stille plötzlich entzwei. Die beiden fuhren ertappt herum und was die junge Frau erblickte, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Lucy stand vor ihr, ihr schlanker Körper in ein perlmuttfarbenes Hochzeitskleid gehüllt. Der Schleier steckte nur noch halb in ihrem lockigen Haar. Ein Baby lag in ihren Armen und weinte lauthals. Louisa stand wie erstarrt vor ihrer älteren Schwester, die sie aus ihren Augen schmerzerfüllt anblickte. „Wie konntest du mir das antun?"flüsterte Lucy mit brüchiger Stimme. Die Worte wurden vom Rauschen der Wellen fort getragen. Dann sank sie auf die Knie, das kühle Wasser zog an dem langen Schleier, doch das schien sie nicht zu kümmern. Louisa stand weiterhin wie erstarrt da und brachte kein Wort über ihre Lippen. Edward Pembroke war wie vom Erdboden verschluckt. Dann richte sich Lucy's Blick erneut auf ihre jüngere Schwester und statt Schmerz blitzte Wut in ihren dunklen Augen. „Was hast du nur getan?"
![](https://img.wattpad.com/cover/300080015-288-k73084.jpg)
DU LIEST GERADE
Liebe und Verstand
Tarihi KurguDem zukünftigen Mann der Schwester zu verfallen, schickt sich nicht für eine Dame ihres Standes. Dessen ist sich Louisa Tilbury bewusst, doch die tiefblauen Augen von Sir Edward Pembroke bringen die junge Frau immer wieder um den Verstand. Dass ausg...