Kapitel 5 - Spaziergang zwischen Rosen

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Die Sonnenstrahlen hatten den Hügel hinter dem Anwesen von Waterlilies Park noch nicht erklommen, da saß Louisa bereits auf dem Fenstersims und ließ ihren Blick über die grüne Weite schweifen. Die Baumwipfel bogen sich in der sanften Septemberbrise. Ab und zu streifte ein vorbeifliegendes Rotkelchen ihr Blickfeld. Pfeifend ließ es sich auf einem Ast nieder und baute fleißig an seinem Nest, während die Kücken vor Hunger gierig zwitscherten. Die letzten verbleibenden Mücken tanzten zwischen den Birken und Buchen ihren morgendlichen Tanz. Louisa stellte sich vor, wie das Leben als Tier wohl wäre. Keine Zwänge, keine Regeln und Vorschriften, kein perfektes Erscheinen. Nach so einem Leben sehnte sie sich.

In dem Anwesen der Tilbury's herrschte noch immer schlafende Stille, die sich durch jeden Raum zog. Dabei tauchte nun langsam die Sonne am Horizont auf und schickte ihre ersten Strahlen über die Hügel, die Waterlilies Park säumten. Louisa's Magen schien nun ebenfalls erwacht zu sein und knurrte leise. Auf Zehenspitzen schlich sie durch die verwinkelten Gänge des herrschaftlichen Hauses. Ihre Füße trugen sie dabei an dem elterlichen Schlafraum, Lucy's Zimmer sowie Sir Edward Pembroke's Gästezimmer. Vor seiner Tür verweilte sie einen kurzen Moment und hielt den Atem an. Kein Laut war zu vernehmen, was sie ahnen ließ, dass er noch tief und fest schlief. Louisa stellte sich vor, wie er wohl schlafend aussah. Wie sich die goldenen Locken auf seinem blütenweißen Kopfkissen ausbreiteten und seine muskulöse Brust langsam hob und senkte. Wieder kehrte das merkwürdige Flattern in ihren Magen zurück. Louisa schüttelte trotzig den Kopf und schob das ungewohnte Gefühl auf den Hunger.

Der Weg zur Küche führte sie weiter, die große Treppe hinunter, durch den Salon, direkt in Bridget's Reich. Leise singend saß sie am Tisch und schälte Äpfel, die sich tiefrot in einem Bastkorb tummelten. Als sie die jüngste Tochter des Hausherren erblickte, schlich sich ein Lächeln auf ihre Lippen. „Mrs. Louisa, sie sind so früh wach?" Die junge Mrs. Tilbury sank neben ihr auf einen Schemel, nahm sich ein Messer und zückte einen der pausbackigen Äpfel aus dem Korb. „Die Rotkelchen, die sich auf dem Ast neben meinem Fenster ein Nest bauen, haben mich mit einer sanften Melodie geweckt." Das Pfeifen des Kessel's ertönte in der Küche und zog Bridget auf die Beine, die sich sogleich um die Rosenblüten in den Porzellantassen kümmerte, die mit dem kochenden Wasser eine süße Note in der Luft verströmten. Nachdem sie eine der verzierten Tassen vor Louisa abstellte, nippte diese vorsichtig an der wohlduftenden Flüssigkeit, die heiß ihre Kehle hinunter rann. „Konntet ihr wenigstens gut schlafen, werte Lady?" Louisa behelligte die Haushälterin mit einem aufziehenden Blick. Tagtäglich bat sie Bridget, sie nicht mit diesen Förmlichkeiten anzusprechen. Schließlich kannte die Haushälterin die junge Mrs. Tilbury bereits als diese noch ein kleiner Fratz in einer Wiege war. „Nun wenn ich ehrlich bin, habe ich selten besser geschlafen." Mit einem gedankenverlorenen Blick dachte Louisa an ihren letzten Traum zurück. Sie spazierte über den weichen Sand eines meilenweiten Strand's, der auf der linken Seite von mannshohen Klippen gesäumt war, die majestätisch in den Himmel hinauf ragten und auf ihren Häuptern mit saftigen Wiesen geschmückten waren. Auf der rechten Seite brachen die tiefblauen Wellen in den Riffen und Buchten. Das Rauschen tönte noch immer in ihren Ohren. Sie konnte sich nicht vorstellen je einen so wundervollen Ort besucht zu haben und obwohl sie das weite Meer noch nie gesehen hatte, erschienen ihr die Wellen merkwürdig real. Das Schönste an diesem Traum allerdings war die Tatsache, dass Sir Edward Pembroke während des Spaziergang's ihre Hand hielt. Die laue Meerbrise wehte durch sein blondes Haar und einige Strähnen rutschten ihm in die Stirn. Er lächelte, grinste fast und entblößte seine schneeweißen Zähne. Einerseits wünschte sich Louisa dieser Traum wäre Wirklichkeit, andererseits wusste sie wie egoistisch und ungezogen ihr diese Gedanken erschienen. Sir Edward Pembroke war schließlich der Verlobte ihrer Schwester Lucy.

Die Äpfel lagen inzwischen fertig geschält in einer Schüssel, bereit für den Apple Pie. Louisa verabschiedete sich aus der Küche, langte nach ihrem Schultertuch welches im Salon an einer Garderobe hing und verließ das Anwesen. Die abgewetzte Strohhaube ließ sie zurück. Im Rosengarten, der den Vorplatz des Herrenhauses schmückte, umfing sie eine angenehm kühle Septemberbrise, die den Duft der leuchtend roten Rosen mit sich trug. Mit einem verträumten Lächeln trugen ihre Füße die junge Mrs. Tilbury in das kleine Labyrinth aus Rosenhecken. Ab und zu entdeckte sie eine Biene oder eine Hummel, die sich in dem Inneren der Blüten versteckten, weil sie schliefen oder den Süßen Nektar heraus fischten. Vor einem gelben Schmetterling, der zwischen drei Rosenblüten hin und her hüpfte, blieb sie stehen. Aus einem der zahlreichen Lexika aus der Bibliothek ihres Vater's wusste sie, dass er den Name Zitronenfalter trug und gerade hier in Somerset aufgrund der südlichen Wärme heimisch war.

Vorsichtig näherte sie sich dem Tier und streckte die Finger aus. Der Zitronenfalter verhielt sich ruhig und ließ sie gewähren. Nach einer Weile gewann er an Vertrauen und landete schließlich auf ihrem Finger. Fasziniert betrachtete die junge Mrs. Tilbury die feinen Linien auf seinen Flügeln und das sanfte, zarte Gelb welches der Farbe ihres Kleides glich. „Ein Gonepteryx rhamni.."ertönte plötzlich eine Stimme neben ihr. Ertappt fuhr Louisa zusammen und der Zitronenfalter flog vom Schrecken gepackt davon. Sir Edward Pembroke musste sich ein Kichern verkneifen. „Verzeihen Sie Mrs. Tilbury, ich befürchte, dass ich dazu verdammt bin, sie ständig zu erschrecken. Ich hoffe Sie sind mir nicht böse." Louisa wusste, dass sie seinen ozeanblauen Augen und dem schelmischen Grinsen nicht lange widerstehen konnte. Sie dachte an ihre erste, gemeinsame Begegnung zurück. „Nein keineswegs Sir Pembroke."erwiderte sie. Im aufgehenden Sonnenlicht leuchtete sein goldenes Haar. Wieder kribbelte es in Louisa's Fingern und sie verspürte abermals das Verlangen durch die blonden Locken zu streichen. Edward Pembroke bedachte die junge Frau mit einem intensiven, unergründlichen Blick. Louisa's Knie verwandelten sich in die Zitronencreme, die Bridget häufig zum Nachmittagstee servierte. Mit jeder Sekunde, die der Rosengarten mit Stille gefüllt wurde und das unergründliche Blau seiner Augen sie wie tosende Wellen umfing, wusste die junge Frau, dass es nicht mehr lang dauern würde, und der Boden unter ihren Füßen verwandelte sich in Wasser, in dem sie versank.

„Was führt sie zu der frühen Stunde hier her?"durchbrach Louisa die Ruhe, die lediglich von dem Summen der Bienen und Zwitschern der Vögel erfüllt war. Edward Pembroke kratzte sich verlegen im Nacken. „Nun die frühe Stunde hat mich schon immer aus dem Bett geworfen und da ich die werten Herrschaften, die mir ihre Gastfreundschaft erweisen, nicht wecken wollte, bin ich spazieren gewesen."erklärte er. Seine langen, schmalen Finger glitten über die Hecke, strichen sanft über die Blüten der tiefroten Rosen. „Und welches Fleckchen Erde hat euch in Waterlilies Park bisher am Besten gefallen?"Die junge Mrs. Tilbury setzte sich in Bewegung. Sir Edward Pembroke leistete ihr Gesellschaft. Gemeinsam spazierten sie durch das Labyrinth von Hecken, deren Rosen einen betörenden Duft verströmten. „Eine äußerst schwierige Frage Mrs. Tilbury, aber von der unendlichen Weite, die ich bisher erblicken konnte, würde ich mich für den kleinen Pavillon am Karpfenteich entscheiden. Natürlich muss ich noch den Rest des Besitzes erkunden, um eine endgültige Entscheidung treffen zu können." Diese Aussage zauberte der jungen Frau ein Lächeln auf die Lippen. Insgeheim hatte sie gewusst, dass er von dem Anblick dieses malerischen Bildes verzaubert war. „Dann kann ich sie nur zu ihrer Wahl beglückwünschen." Wieder schenkte er ihr das warme Lächeln und das Kribbeln kehrte in Louisa's Bauch zurück. Sie wunderte sich über diese neuen Gefühle, die Sir Edward Pembroke in ihr auslöste. Bisher hatte es noch kein Mann geschafft, ihr Herz schneller schlagen zu lassen. Ausgerechnet der Verlobte ihrer Schwester, schien diese Meisterleistung zu erbringen, lediglich mit einem Blick und einem Grinsen.

„Sie haben vorhin den lateinischen Namen des Zitronenfalters verlauten lassen. Interessieren sie sich für Tiere?"Der Drang ein Gespräch mit dem jungen Mann aufrecht zu erhalten, brannte sich wie ein Mal in Louisa ein. „So könnte man es sagen. Das meiste Wissen über sie habe ich aus Büchern und Schriften. Wenige Seltenheiten sah ich bereits auf meinen Schifffahrten über den Atlantik." Die junge Mrs. Tilbury riss überrascht die Augen auf. „Wirklich? Sie waren auf See?" Ihre augenblickliche Schockstarre brachte Sir Edward Pembroke zum Kichern. „Ja, so wahr ich hier stehe. Mein Vater war Marineoffizier. Captain John Pembroke. Ein Name, der sich in London an hohem Ansehen erfreut. Leider weilt er nicht mehr unter uns. Er ging als ich siebzehn Jahre war." Der düstere Schatten, der sich über sein Gesicht legte, schnürte Louisa die Brust zusammen. Am liebsten hätte sie die Hand auf seiner strammen Schulter verweilen lassen, um seinen Kummer, wie eine Mücke das Blut, aufzusaugen. Doch diese Geste kam ihr in Anbetracht Ihrer Verhältnisse inadäquat vor. „Mein Beileid, Sir Pembroke." richtete sie stattdessen das Wort an ihn. Im selben Moment erhellte sich sein Gesichtsausdruck wieder und das schelmische Lächeln kehrte auf seine vollen, kirschfarbenen Lippen zurück. „Bitte nennen Sie mich Edward." Sein Grinsen steckte sie an. „Sehr gern, ich bin Louisa."
Gemeinsam schlenderten sie weiter durch die Hecken, die sich wie Torbögen über ihnen wölbten. Die Rosen schienen ihre Köpfe den Spaziergängern entgegen zu neigen, wissend, dass zwischen ihnen eine gewisse Verbundenheit bestand.

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