Am liebsten würde ich mich genau jetzt in mein Auto setzten und Rory abholen gehen. Sie endlich aus der Wohnung mit meiner Mom herausholen und sie hierherbringen. Damit sie endlich in Sicherheit ist. Aber natürlich erlaubt sie es mir nicht.
»River«, spricht sie beruhigend in den Telefonhörer, »du kommst jetzt nicht her, hörst du?«
Ich seufze tief und unterdrücke den Drang, einfach los zu schreien. »Ich sollte aber kommen, Rory. Sie hat schon wieder getrunken. Du bist nicht diejenige, die sich um sie kümmern muss, verstehst du? Sie braucht wieder einmal professionelle Hilfe.«
»Ich habe schon mit der Leiterin der Selbsthilfegruppe telefoniert.« Die Stimme meiner Schwester ist leiser als zuvor.
Ich schnaube. »Verdammt, Rory! Das ist nicht deine Aufgabe, ich kümmere mich darum, verstanden?«
Diesmal ist sie diejenige, die schnaubt. »Ich bin kein kleines Kind mehr, River. Ich kann mich auch um so etwas kümmern, okay? Sie braucht meine Hilfe und ich helfe gerne. Aber du ... du machst es nur, weil du mir damit die Arbeit abnimmst und nicht, weil du es für sie tust. Und das ist ja auch toll, aber ich will nicht, dass dir diese Aufgaben zu Last fallen. Für mich sind sie keine Lasten.« Sie verstummt und ich schlucke hart.
»Rory ...«
»Ist schon gut, River. Du musst dich nicht dafür entschuldigen, dass deine Liebe für sie kaum noch da ist. Ich verstehe es irgendwie«, erwidert sie leise und kurz bildet sich Stille zwischen uns.
Ich klemme mir den Hörer zwischen Schulter und Ohr, sodass ich meine Hände frei habe, und hantiere an der Chipspackung herum, die Austin vorhin vom Einkaufen mitgebracht hat. »Aber das stimmt so gar nicht«, sage ich schließlich und schütte die Chips in eine Schüssel. »Ich ... ich liebe sie auf irgendeine Weise. Immerhin ist sie auch meine Mutter, Rory. Aber ... ja, du hast irgendwie recht.« Ich seufze laut und greife mit der Hand in die Schüssel.
»Was machst du da eigentlich?«, will sie wissen.
»Ich esse Chips«, erkläre ich mit vollem Mund.
Sie lacht leise, dann seufzt sie. »Ich hatte ewig keine Chips.«
Erneut brandet Wut in mir auf. »Soll ich dich abholen? Gib zu, dass es bei euch kaum etwas Essbares gibt. Hier gibt es reichlich ... ähm ... nun ja, es gibt reichlich Chips.«
Wieder lacht sie und der Ton lässt mein Herz aufgehen. Meine Schwester lacht viel zu selten und wenn sie es tut, will ich am liebsten, dass sie nie wieder damit aufhört. »Nein, River. Ich bleibe hier. Und außerdem gibt es hier reichlich ... Dosenravioli.«
»Lecker«, kommentiere ich, dann lachen wir beide. »Ich meins ernst, Rory, ich hole dich ab.« Meine Stimme ist wieder ernst.
In diesem Moment klingelt es an der Tür.
»Austin, mach du auf!«, brülle ich in den Flur, aber es bleibt alles stumm und ruhig. Also stehe ich seufzend auf und schlurfe in den Flur.
»Lass es gut sein, River. Kümmere du dich lieber mal um den Besuch«, meldet sich Rory wieder zu Wort.
»Es ist bestimmt nur der Postbote«, beharre ich. Dieser kommt beinahe fast jeden Tag hier vorbei und bringt neue Glitzerkostüme oder Schuhe für Jackie. Seufzend lehne ich mich zur Freisprechanlage. »Hallo?«
»River, ich bin's.«
Ich verschlucke mich an den Chipskrümeln und starre verblüfft und hustend auf die geschlossene Tür. Was macht Madelyn bloß hier?
»Der Postbote, was?«, flötet Rory und ich schüttle langsam den Kopf, bis ich merke, dass sie es gar nicht sehen kann.
»Ach, sei still, kleine Schwester.«

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Zwischen uns zwei Welten
RomanceMadelyns Leben ist strukturiert, berechenbar und durchgeplant. Ihre beste Freundin ist die Tochter der wichtigsten Geschäftspartner ihrer Eltern, ihr Freund ist ein reicher Vorzeigeschwiegersohn, ihre Noten immer perfekt und später soll sie die ber...