9

698 35 2
                                    

Die Stimmung war aufgeladen. Ich liebte dieses stumme Summen der Eishalle kurz vor einem Spiel. Es war wie das elektrische Knistern vor einem Gewitter. 
Lilly lächelte mich an. Sie stand ein paar Reihen hinter mir und unterhielt sich mit einer zierlichen Blondine, die höfliche nickte. Doch ich sah, wie sie ab und an das Eis absuchte. Wir waren schon in der Halle, bevor der Rest der Menschen die Ränge füllten und saßen in einem kleinen abgetrennten Bereich. Einige der Frauen hatten sich mir vorgestellt, doch ich hatte meine Aufmerksamkeit ziemlich schnell wieder dem Spielfeld gewidmet. 
Deswegen war ich auch nicht besonders glücklich, als mein Handy klingelte und ich das alte Ding aus der Tasche kramte. Reid. 
Sofort nahm ich ab. Normalerweise rief mich weder Reid noch Moe auf dem Telefon an. Schon gar nicht an einem freien Tag. Em tat es manchmal, doch wir gingen auch ab und an mal was trinken. Aber Reid? Niemals! 
Während mein Blick angestrengt über das Eis huschte und ich den Aufwärmübungen des Teams zusah nahm ich angespannt das Gespräch an. 
"Ja?" Fragte ich alarmiert. "Harper? Ich nickte, merkte zu spät, dass er mich nicht sah. "Ich will eigentlich nicht stören..." Sagte er und ich nickte, versuchte mich an einem Lächeln. "Nur dachte ich, dass du das sicherlich hören möchtest." Er druckste ein wenig herum und brachte mich damit um den Verstand. "Es gab einen Zwischenfall." Ich hielt die Luft an. Am liebsten hätte ich Reid angeschrien er solle mir endlich sagen, was los war. Doch ich stieß nur laut die Luft aus. "Ist der Zeitpunkt gerade schlecht?" Fragte er und ich knurrte. Ja, ich knurrte wirklich. "Reid!" Rief ich aufgebracht. "Sag mir verdammt nochmal was los ist!" Fuhr ich ihn an. Für einen Moment herrschte Ruhe. Nervös fummelte ich an meinem Trikot herum. Schwarz und gelb. Dabei hatte ich noch vor ein paar Stunden wirklich überlegt, ob ich es überhaupt anzog. Immerhin stand auf meinem Rücken der Name der nicht genannt werden sollte.
"Kevin..." Mein Herz setzte aus. Panik kroch durch mich hindurch. Bilder von Libby, dem süßen Lachen und dem leeren Ausdruck in meinen Kopf. Ich hatte sie gefunden und ich würde die Bilder niemals wieder loswerden. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte, wenn er... 
"Was ist mit ihm? Geht es ihm gut?" Fragte ich nach. Ich wusste man sollte sich seine Arbeit nicht mit nach Hause nehmen, doch in meinem Job war das nicht sehr einfach. Denn das waren keine Akten. Nicht nur Nummern. Das waren Namen, Gesichter und Geschichten. 
"Heute war seine Hauptuntersuchung." Ich nickte eifrig. Eine lange Pause entstand, als Reid mit jemandem sprach. Ungeduldig  friemelte ich am Trikot herum. 
Mein Blick flog aufs Eis und blieb an einem bekannten Gesicht hängen, das an mir vorbeisauste, einem Teamkollegen auf die Schulter schlug und dann etwas aus seiner Tasche holte. Er trug noch keine Handschuhe und ich konzentrierte mich auf seine Finger. Als suchte ich nur irgendwas, was mich ablenkte, von dem, was Reid mir möglicherweise gleich erzählte. Ich hoffte nur nicht, dass die Nervenschäden soweit waren, dass sie nicht heilten. Er hatte einige sensorischen Schäden, die wohl niemals heilen würden. Doch wenn er möglicherweise, auch mit Training, seine Stärke nicht wiederfinden würde?  Wenn er am Stock gehen musste oder mit Krücken? Natürlich war er jung und würde damit Leben lernen, doch ich wünschte mir, dass er wieder möglichst gesund wurde. 
Als Scott wieder an mir vorbeikam erkannte ich, dass er sich gerade Kopfhörer in die Ohren steckte und als mein Blick wieder auf seine Hände fielen erstarrte ich. "Was für ein Mistkerl!" Brachte ich raus und starrte den Mann fassungslos an. Er hatte meinen bescheuerten MP3-Player in den Händen. Als könne er sich keine eigenen leisten. Ich erkannte ihn, denn das kleine pinkfarbene Gerät mit den gelben und blauen Stickern war ziemlich unverkennbar. Sein Kopf wippte und ich wäre am liebsten über die Scheibe geklettert und hätte ihm den Player aus der Hand gerissen. Vermutlich hätte ich ihn dann mit dem Kopf gegen die Bande geschlagen und mit einem lächeln triumphiert. 
Meine Taktik einfach wütend auf ihn zu sein, funktionierte einwandfrei. Ich konnte einfach jede Ungerechtigkeit, jede noch so kleine Sache auf ihn schieben. Bus verpasst? Scott war Schuld. Kaffee umgekippt? Scott war Schuld. Regen? Scott war Schuld. Klare Sache! Scott war einfach immer Schuld.
Meine Ungeduld wuchs. Ich konnte noch so wütend auf Scott sein. Besorgt um Kevin war ich trotzdem und im Moment war meine Wut eher auf Reid und dieses bescheuerte Telefon gerichtet. "Reid?" Fragte ich scharf und hörte wie er stotterte. "Entschuldige. Bin sofort da." Ich seufzte frustriert. Ich telefonierte jetzt eine Ewigkeit mit ihm und hatte einfach nichts erfahren.
Dann wurde es dunkel. Das Team verließ das Eis und ich wusste, dass die Lautstärke gleich zunehmen würde. "Reid!" Knurrte ich wieder. "Die Befunde sind gerade gekommen." Erklärte er und ich hörte raschelndes Papier im Hintergrund. 
Lichter flackerten übers Eis, künstlicher Nebel stieg auf und dröhnende Musik erklang. Bekanntermaßen liefen zuerst die Gegner auf und die Halle begann zu buhen und pfeifen, während die Gegnerischen Blöcke versuchten dagegen anzukommen. 
"Sie sind alle gut. Hast du gehört? Alle Nerven haben Reaktionen gezeigt. Selbst die verletzten sind über dem Schwellenwert. Die Schwellung ist beinahe komplett zurückgegangen." Rief Reid über den Lärm hinweg und langsam. Nur ganz langsam schob sich ein Lächeln auf meine Lippen. Ich hatte kaum gemerkt, dass mich das so sehr belastet hatte. Ich hatte noch immer einige Patienten die mir Kopfschmerzen bereiteten. Doch Kevin hatte gute Nachrichten gebrauchen können und ich lächelte breit. Beinahe schmerzhaft. Ich blinzelte ein paar Tränen weg. "Das ist fantastisch." Rief ich, doch ich glaubte nicht, dass Reid mich verstand. 
Lilly tauchte neben mir auf und musterte mich interessiert. Das war ein guter Tag. Am liebsten hätte ich laut gejubelt. Das war ein Grund zum Feiern. "Danke, Reid. Das habe ich wirklich gebraucht." Rief ich, doch laute Musik begann zu spielen und nachdem die Toronto Maple Leafs aufgelaufen war, wurde es noch lauter. Denn die Musik wurde von dröhnenden Herzschlägen begleitet, Nebel schwaderte übers Feld und die Fans drehten durch.
Mit einem klaren lauten Lachen legte ich auf und grinste Lilly an. Verwundert sah sie mich an, doch lächelte ebenfalls und noch bevor der erste Spieler aufgelaufen war stieg ich in die Jubelrufe der Fans ein. Einen nach dem anderen kündigte der Stadionsprecher die Stammspieler an. Und ich grölte jeden Namen mit. Meine Wut war verraucht. Heute war ein wirklich toller Tag. 

ICECOLD - 1 - Scott KnightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt