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Völlig erschlagen starrte ich auf die Uhr. Es war kurz nach halb fünf. Seit über fünf Stunden saßen wir nun hier und warteten darauf, dass neue Informationen durchrangen. 
Lilly schlief unruhig auf einer der Bänke. Nachdem ich ihr gesagt hatte, sie solle seine Familie anrufen hatte sie erst eine Stunde geweint und mir dann ihr Telefon gereicht. 
Also hatte ich sowohl Scotts Mutter, als auch seinen Bruder angerufen. Seine Eltern waren schon in Pittsburgh gelandet, sie kamen aus Florida, weil sie vor einigen Jahren dorthin gezogen waren und hatten sich entschlossen sofort von Pittsburgh loszufahren. Auch wenn ich sie bat  erst ein paar Stunden zu schlafen. 
Ich hatte sie damals kennengelernt. Als ich einmal bei ihnen war um für den Chemietest zu lernen. Nun Scott hatte bestanden und die beste Chemienote bekommen, die er je hatte. Zusammen mit der Note aus dem praktischen Unterricht im Labor war er in diesem Jahr auf Platz zwei. Direkt nach mir. 
Jake, Scotts Bruder, der erst am Morgen einen Flug von Washington DC. nehmen wollte, versicherte mir, dass er sofort umbuchen und so schnell es ging einen Flug nach New York nehmen würde. 
Irgendwann war Lilly dann eingeschlafen und hatte aufgehört zu weinen. Nachdem ich ihr erzählt hatte, dass einer der besten Ärzte ihn behandelte. Ich konnte ihr ebenfalls erzählen, dass es keine offenen Brüche oder inneren Blutungen gab, jedenfalls nicht mehr als einige kleine gerissene Gefäße. Doch bei dem Aufprall waren Hämatome kein Wunder. 
Casey hatte mir Scotts Wertsachen gegeben und ich hatte gelächelt, als ich gesehen hatte, dass er den MP3-Player noch immer in der Tasche gehabt hatte. Das kleine Display war gesprungen, doch als ich ihn anschaltete funktionierte er noch einwandfrei. So hatte ich ihn nicht zurückbekommen wollen. 
Dann war ich zu Lilly gegangen, hatte ihr etwas zu trinken besorgt und ihr versichert, dass alles gut werden würde. Als das Team hereingestürmt kamen, war sie völlig außer Rand und Band. Ich fühlte mich schlecht, weil ich das dachte, doch es fühlte sich an, als würde sie eine riesige Show abziehen. Es fühlte sich übertrieben an und raubte mir meinen letzten Nerv. Doch der Coach erklärte, dass wir nichts tun konnten und nun alle zurück fahren würde. Ich versicherte Dex, dass ich ihn anrief wenn etwas war. Danach war sie eingeschlafen und hatte mich alleine gelassen. Das sie auf dem kleinen Sofa überhaupt schlafen konnte, war mir ein Rätsel. Denn ich konnte kaum stillsitzen. 
Es war schon fast sechs, als die elektronische Tür aufglitt und ich den Blick hob, in der Hoffnung Casey würde vor mir stehen. Doch das tat er nicht. Stattdessen sah ich einen großgewachsenen Mann. Er trug einen Anzug, der allerdings etwas derangiert wirkte. Seine dunkle Haut bildete zu dem hellblauen Hemd einen wunderbaren Kontrast und als mein Blick in sein Gesicht wanderte erkannte ich ihn sofort. Jake. 
Nicht nur weil ich ihn auf dem Foto gesehen hatte, sondern weil die Ähnlichkeit zu Scott verblüffend war. Dabei mussten die beiden einige Jahre auseinander liegen. Er war ein gutaussehender Mann mit einem gehetzten Ausdruck. 
Bevor er an den Tresen stürmen konnte, erhob ich mich und ging auf ihn zu. "Jake?" Fragte ich leise und schob ihn in den Vorraum. Er nickte. "Ich bin Harper, wir haben Telefoniert." Erklärte ich und er lächelte müde. "Hallo." Begrüßte er mich. "Danke, dass du angerufen hast." Fügte er freundlich hinzu, doch ich sah, wie gehetzt er war. Dieses Geplänkel interessierte ihn nicht. 
"Er ist gerade im OP." Erklärte ich ihm. Während ich Lilly einige Dinge nicht erzählen würde, konnte ich seinen Bruder nicht anlügen.
"Die gute Nachricht ist, dass er keine inneren Blutungen und keine offenen Brüche hat. Doch ein massives Trauma, der Hüfte. Der behandelnde Arzt konnte mir noch nicht viel sagen." Erklärte ich ihm. "Zudem hat er eine Verletzung im Kniegelenk und wohl eine Prellung der Schulter. Vielleicht ein paar gebrochene Rippen. Ich habe noch keine Röntgenaufnahmen gesehen, weswegen ich auch da noch nicht genügend weiß." Jake nickte bei jedem Wort das ich sagte. "Er ist in guten Händen. Dr. Donovan ist einer der besten, das verspreche ich." Redete ich weiter und er nickte wieder. "Sind Sie seine Verlobte?" Wollte er plötzlich wissen, als wolle er sich ablenken. Ich schüttelte mit dem Kopf. "Nein. Ich bin Lillys Schwester. Also quasi die Schwägerin." Wieder nickte er. "Ah. Jedenfalls: Danke." Sanft lächelte ich, legte meine Hand auf seinen Unterarm und drückte ihn. Ich wusste wie man Menschen beruhigte. Wie man dafür sorgte, dass sie nicht die Hoffnung verloren.  
Mein Blick huschte wieder zur Uhr. Um sieben war Schichtwechsel. Wenn alles gut lief, würde Casey dann rauskommen können. Ich war mir sicher, dass er mir alle Nachrichten persönlich überbringen würde. Doch ich hatte keine Probleme damit schon mal ein paar Aufnahmen zu sehen. Immerhin wusste Casey, dass ich in meinem Job mindestens genauso gut war, wie er in seinem. Ich konnte ein paar Röntgenaufnahmen, ein MRT oder Ultraschallbild deuten und damit etwas anfangen. Ich fragte mich, ob er mich mit Absicht warten ließ, weil er wusste, dass ich zu Schlüssen kommen würde, die mir nicht gefallen würden. 
"Magst du einen Kaffee haben, Jake?" Fragte ich ihn und blickte sehnsüchtig zur Tür. "Auf der anderen Straßenseite gibt es einen kleinen Coffeeshop." Erklärte ich. Ich brauchte etwas frische Luft. Ich brauchte ein wenig Raum. 
An sich hielt ich mich für einen geduldigen Menschen. Doch ich hasste die Ungewissheit. Denn die war es die mich auffraß. 
"Oh, ich würde alles für einen Cappuccino tun." Brachte er raus. Ich lachte auf. "Nun, dann besorg ich schnell einen. Irgendwelche Vorlieben?" Hakte ich nach, doch er schüttelte den Kopf." Mit leisen Schritten ging ich in den Warteraum, nahm meine Jacke und warf Lilly einen letzten Blick zu. Dann verließ ich das Krankenhaus. 
Ich war froh ein wenig meine Ruhe zu haben und freute mich über das leise aufwachen der Stadt. Denn obwohl New York die Stadt war, die niemals schlief, so hatte auch sie ihre ruhigen Moment. Es war die Stille vor dem Sturm. Bevor das verrückte Leben der Stadt wieder losging und überall Hektik und Betriebsamkeit anfing. Und diese Betriebsamkeit verschluckte alles was klein und zärtlich war. Alles was wunderbar leise war. Alles dessen Schönheit in der Ruhe lag und das brach mir beinahe das Herz. Denn es fühlte sich an, als würde ich verloren gehen. Verloren, weil ich einfach nicht laut genug war, um hier zu überleben. 

ICECOLD - 1 - Scott KnightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt