NAEL| Meine Fingerkuppen fahren den staubigen Tisch entlang. Angewidert wische ich meine dreckigen Finger an meine schwarze Hose ab und durchsuche weiter. Reflexartig öffne ich jede Schublade, jede Schranktür und auch jede Kiste. Nichts. Selbst Noah findet nichts.
„Ich habe was.", kommt es plötzlich von ihm. Hellhörig drehe ich langsam mein Kopf zu ihm. Er hält Pässe in der Hand. Noah schaut sich diese genauer an.
„Luna Tamio.", ich ziehe meine Augenbrauen zusammen. Ohne etwas zu sagen, schmeißt er mir den Pass zu, ich schaue sofort rein. Es ist ein gefälschter Pass. Ihre großen müden schwarzen Augen blicken direkt in die Linse, die Mundwinkel entspannt. Fast schon wie ein verbrecherischer Blick den sie aufsetzt. Ihre Augen sind wie immer schwarz geschminkt, sie hat gefärbte rote Haare auf dem Bild. Ihre Augenbrauen waren auch dicker, die jetzigen dünngezupften Augenbrauen lassen sie älter wirken. Wobei ich sagen muss, wie eine vierundzwanzigjährige sieht sie nicht aus. Eher wie eine in ihren goldenen Zeiten. Wenn man genauer hinschaut, erkennt man selbst auf diesem Bild ihre hohen Wangenknochen, ihren dürren Hals und auch ihren knochigen Schlüsselbein. Sie war also schon immer recht dünn.
„Das sind gefälschte Pässe.", bestätigt Noah meinen Verdacht. Er wirft mir mehrere gefälschte Pässe in die Hand. Es sind immer andere Bilder: mal hat sie helle Haare, Sommersprossen, helle Augen. Doch eins bleibt gleich: der leere Blick. Es sind immer andere Namen.
„Alex Himmel.", murmelt Noah vor sich hin, als er einen weiteren Pass findet. Wahrscheinlich dieser Armin, ihr Bruder, der eigentlich nicht ihr Bruder ist.
„Wofür brauchen die denn so viele Pässe?", frage ich vor mich hin. Wie tief sind die in der Materie drin? Was seid ihr bloß für Menschen? Worauf lasse ich mich ein? Vielleicht sind sie doch gefährlicher, als gedacht. Neben mir höre ich ein Brummen.
„Na?", kommt es von Noah, der sich zum murrenden Armin wendet. „Gut geschlafen, Dornröschen?", als er Noah erblickt, weiten sich seine Augen. Verständlich. Noah kann gruselig sein. Ich schnalze mit der Zunge, drehe meinen Kopf in die andere Ecke der Einzimmerwohnung, die schon ordentlich heruntergekommen ist. Sie ist noch immer nicht erwacht. Mit schweren, quälend langsamen Schrotten mache ich mich auf sie zu und knie mich vor ihr hin. Sie liegt auf den Boden, da wir keine Matratze gefunden haben. Wie schlafen die hier? Ich streiche ihr die Strähnen aus dem Gesicht. War die Droge zu hart? Ich hätte wenigstens die Spitze abmessen sollen. Nicht, dass sie tot ist— aus mir entflieht eine unangenehme Wärme. Sie ist blass und regt sich nicht. Sollte ich nachchecken? Ich strecke meine Hand nach ihren Hals aus. Als ich ihre helle Haut berühre, entsteht eine Gänsehaut. Sofort wird meine Hand von einer feinen, relativ starken Hand umgriffen— es ist ihre.
„Ich lebe noch.", ihre Stimme ist brüchig. Sie öffnet ihre Augen nicht. Wahrscheinlich noch zu schwach von der Droge. Ich schaue auf meine Armbanduhr— die ich mir mittlerweile wieder zurückgeholt habe— und stelle fest, dass es schon nach Mitternacht ist. Langsam werde auch ich müde, was mich ungeduldig macht. Ich nehme die Wasserflasche, die auf dem Boden rumliegt und öffne diese. Ohne lange nachzudenken schüttle ich ihr den Inhalt über den Kopf— sie steht sofort mit geweiteten Augen auf. Ist ja nicht so, als wären ihre Augen schon groß genug— ihre Augen spucken Feuer.
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She Loved Him Too Early
RomanceSie verliert zwei wichtige Menschen in ihrem Leben. Er verliert die Liebe seines Lebens. Sechs Jahre glaubte Nael, dass seine Geliebte tot sei. Sechs verdammte Jahre. Doch aus Zufall heiratet sie. Yara, für ihre mutige Art bekannt. Nael, dafür bek...