1. Ein ganz normaler Arbeitstag

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"Shibuya. Ausstieg links", schallte die Ansage durch die Lautsprecher der U-Bahn. Na endlich. Ich hasste Menschenaufläufe. Und wo war man davon unausweichlich umgeben? Genau, in der U-Bahn. Zu meinem Leidwesen war heute auch noch so ein Tag an dem die Waggons überliefen wie eine volle Regentonne. Aber was tat man nicht, um zur Arbeit zu kommen, ohne im städtischen Stau zu stehen. Irgendwas musste einem ja recht sein.

Quietschend blieb der Zug stehen und mit einem Knopfdruck öffnete sich die Tür, an der ich förmlich klebte. Ich stürmte schon fast aus dem Waggon und eilte nach oben auf die vollen Straßen Tokyos. Wie ich Menschen doch hasste. Und ja, ich habe so etwas wie Freunde, die ich leiden kann. Aber Menschenansammlungen sind einfach schrecklich. Ich atmete einmal tief durch und machte mich auf zu meiner Arbeitsstätte.

Zehn Minuten Fußweg in den geschäftigen Massen und ich konnte das Restaurant, in dem ich als Kellnerin arbeitete, durch den Eingang in einer Seitenstraße betreten. "Morgen", grüßte ich meine Kollegen kurz angebunden. "Deine Stimmung ist ja mal wieder eins A", stellte mein Arbeitskollege Kaito fest. Er hatte kurze, wuschelige hellbraune Haare, braune Augen und war körperlich ein klischeehafter Mädchenschwarm. Ein Grund, warum er auch mit jeder Kundin zu flirten begann. Na, solange er single war, konnte er es ja noch machen.

Ich warf ihm nur einen wenig interessierten Blick zu. "Schon wieder in der U-Bahn fast zerquetscht worden?", fragte nun meine Freundin und Arbeitskollegin Yumika. "Du hast es erfasst", antwortete ich mit wenig Elan. Yumika war eine zierliche Frau mit hypnotisch grünen Augen und brustlangen, glatten schwarzen Haaren, die sie meistens in einen Dutt hochsteckte. Sie lächelte viel und war stets freundlich. Sie war einfach die geborene Kellnerin. Ich hingegen konnte meine Stimmung nur schwer in meinem Inneren behalten, weshalb ich den Job auch nur machte, um mir meine kleine Wohnung finanzieren zu können. Und äußerlich war ich ein graues Mäuschen gegen die zwei. Durchschnittlicher Körperbau, brustlange mittelbraune Haare und glanzlose mittelblaue Augen – vermutlich das Einzige, was man auch nur irgendwie als ein wenig außergewöhnlich bezeichnen konnte.

Wie meine Kollegen warf ich mir die Schürze über meine weiße Bluse und den dunkelblauen, knielangen Tellerrock. Die sommerlichen Ballerinas ersetzte ich durch einfache weiße Turnschuhe, die ich aus meinem Spind holte. Und schon begannen wir alles für die kommenden Besucher vorzubereiten. Einen Vorteil hatte dieses Restaurant definitiv: es öffnete erst um elf und so konnte ich ausschlafen. Meine Schicht begann um halb elf. Also jetzt.

Ich schnappte mir einen Besen, sowie eine Mistschaufel und kehrte vor der Ladentür, die Blätter, die von den Bäumen neben der Straße vor die Türe geweht wurden, weg. Anschließend half ich das Besteck zu polieren und dann war ohnehin schon Zeit zu öffnen. Es dauerte nicht lange und die ersten Gäste kamen. Wie jeden Tag war es hektisch. Zwischen zwölf und drei hatten wir Full House und kamen fast nicht mit den Bestellungen hinterher. Bis fünf war es wieder einigermaßen angenehm, was natürlich nur relativ war. Da ich den Job schon seit fünf Jahren machte, war bei mir angenehm etwas, was mich in meiner Anfangszeit zu einem Nervenzusammenbruch getrieben hätte.

Ab sechs hatten wir wieder Stoßzeit. Aber die hielt glücklicherweise nur bis etwa halb acht, ab da kamen immer weniger Gäste. Normalerweise wäre ich um acht nach Hause, aber da ich heute eine lange Schicht abgegriffen hatte, durfte ich bis zum Schluss bleiben. Und dieser Schluss war zweiundzwanzig Uhr. Juhu.

Um halb neun verabschiedeten sich Kaito und Yumika schließlich. Ich wünschte ihnen schnell einen schönen Abend und huschte schon zum nächsten Gast. Ich vermutete einen Geschäftsmann mit seinem Nadelstreifenanzug, dem gescheitelten schwarzen Haaren und dem Handy am Ohr.

Nur kurz drehte er sich von dem Handy weg und übermittelte mir seine Bestellung. Mein Blick glitt kurz zu dem insektenähnlichen, beigen Ding, was sich um seine Taille klammerte und wie ein luftleerer Rettungsring wirkte. Ich hatte einmal den Fehler gemacht und jemanden auf so ein Ding angesprochen. Danach konnte ich mir anhören, was ich mir denn einfallen ließe und dass ich nicht ganz richtig im Kopf war. Seitdem ignorierte ich diese Viecher einfach.

Mit einem Nicken, welches der Gast schon nicht mehr mitbekam, nahm ich die Bestellung zur Kenntnis und gab sie in der Küche ab. In der Zwischenzeit servierte ich dem Mann das bestellte Glas Wasser und kassierte bei ein paar anderen Tischen.

Es war neun und langsam wurde es leer. Es waren nur noch zwei Tische, neben dem mit dem Geschäftsmann, besetzten, die bereits bezahlt hatten und deren Besetzer ein Pärchen und ein Elternpaar mit zwei Kindern waren. Ich holte das Essen für den Geschäftsmann und erkannte einen neubesetzten Tisch. Und ich hatte schon die Hoffnung, dass keine Gäste mehr kommen würden. Ich atmete durch und ging erst einmal an der neuhinzugekommenen Vierergruppe vorbei, um dem Mann seine Soba hinzustellen.

In einem Restaurant war es unweigerlich, dass man die Gespräche der Gäste belauschte und ich war es gewohnt diese auszublenden. Allerdings kamen dann solche daher die so komisch waren, dass man einfach zuhören musste. So auch bei den Neuen. "Und du willst den Finger wirklich essen?", fragte der eine schwarzhaarige Junge, dessen Haare einem Stachelschwein Konkurrenz machen konnten. Wie viel Haargel der wohl da drin hatte? Oder war das von Natur aus so? "Überleg es dir gut, Yuji. Es ist der achtzehnte", meinte nun ein junger Mann, etwa in meinem Alter schätze ich, mit weißen Haaren. Vielleicht ein genetischer Defekt. Er hatte etwas braunes Verkrüppeltes in der Hand und fuchtelte damit vor dem Gesicht eines Jungen mit blonden Haaren herum. Wenn man genau hinsah, konnte man durchaus einen Finger erkennen. "Ah! Hört auf darüber zu reden! Ich möchte hier noch mein Sushi essen!", regte sich nun das einzige Mädchen in der Runde auf. Sie hatte braune Haare mit einem Orangestich und dieselbe dunkelblaue Kleidung wie die anderen drei an. Ich frage mich aus was der Finger gemacht war. Vielleicht auch aus so einer Schaummasse, wie diese Gummiaugen.

Lass mich dich nicht liebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt