6. Peinlich. Peinlich.

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Als es draußen schon dämmerte und ich gerade das Bücherregal wischte, ging die Tür und ich hielt in meiner Arbeit inne. Auf einer Leiter balancierend, die ich umständlich aus dem Abstellraum gezerrt hatte, sah ich abwartend in den Gang. Nicht, dass ich jetzt jemand anderen als meinen Entführer erwartete, aber man konnte doch hoffen. Und wie erwartet trat ein blonder, tätowierter, junger Mann in das kleine Wohnzimmer. Mit den Händen in den Hosentaschen betrachtete er mich mit hochgezogenen Augenbrauen. „Was machst du da?", fragte Sukuna skeptisch und stellte sich neben die Leiter, sodass ich mir fast den Hals brach, um ihn ansehen zu können. Na, was mache ich mit einem Lappen in der Hand auf einer Leiter? Am liebsten hätte ich irgendetwas Patziges geantwortet, allerdings kam aus meinem Mund nur ein kleinlautes „Putzen". Ich drehte mich wieder meiner Arbeit zu und schrie auf als ich das fette, haarige, achtbeinige Riesenvieh knapp vor meiner Hand ein Bein nach dieser ausstrecken sah. Erschrocken wich ich nach hinten, vergaß aber dass ich ja über einen Meter über dem Boden stand. Mit einem weiteren Schrei und Raijus Achtung! fiel ich von der Leiter. Auf den Aufprall wartend kniff ich die Augen zusammen und hoffte, dass ich mir wenigstens gleich das Genick brach, bevor ich unzählige schmerzhafte Brüche hatte. Doch am Ende meines kurzen Fluges befand sich nicht der Boden, sondern eine weiche Landung.

Will ich eigentlich wirklich die Augen aufmachen? Langsam öffnete ich erst das eine Auge und dann das andere, nur um dann in das desinteressierte Gesicht von Sukuna zu schauen. „Danke", murmelte ich leise und verschüchtert in meinen nichtvorhandenen Bart. Mein Retter Schrägstrich Entführer zog nur eine Augenbraue in die Höhe. Fasziniert sah ich in seine Augen, die durch die untergehende Sonne richtig dunkelrot wirkten und durch diese Geste noch mehr betont wurden. Allerdings wurde ich jäh unterbrochen als die Arm unter mir verschwanden und ich mit einem Aufschrei auf den Boden krachte. Aua. Da mir bewusst war, dass Sukuna mein Zustand nicht im Geringsten interessierte und mir sicherlich nicht aufhelfen würde, rappelte ich mich wieder auf. Den Lappen hielt ich noch immer in der Hand.

Ich hob ihn leicht an, um zu sehen, wie dreckig er war und ob ich einen neuen brauchte, da entdeckte ich die Riesenspinne auf dem blassrosa Stoff sitzen. Mit einem erneuten Schrei warf ich den Lappen an Sukuna vorbei in die Küche. Der junge Mann betrachtete das schwarze Vieh, wie es vom Lappen krabbelte und ging auf das Ding zu. „Arachnophobie?", kam die belustigte Frage, während er die Spinne aufhob und sich mit einem teuflischen Grinsen zu mir drehte. „Äh ... n-nicht direkt. I-Ich finde die Viecher einfach nur ... unglaublich ekelig", erwiderte ich stockend und konnte mir ein angestrengtes Schlucken nicht verkneifen. Meine Augen wurden größer als Sukuna mit der Spinne in der Hand – Gott, ist das widerlich – auf mich zu kam und ohne es zu merken, wich ich mit jedem Schritt, den er auf mich zumachte, in Richtung offenen Balkon zurück. Irgendwann blieb mir nichts anderes übrig als notgedrungen stehenzubleiben, während Sukuna mit der Spinne immer weiter auf mich zukam. IIIIIIIIHHHHH!!!!!! „Bitte", quietschte ich, schloss die Augen, drehte den Kopf weg und lehnte mich, soweit es das Geländer zuließ, zurück.

„Wiederhole das", wurde ich mit schadenfroher Stimme aufgefordert. Am ganzen Körper zitternd bettelte ich: „B-bitte, h-halt mir d-dieses Vieh v-vom Leib." Daraufhin kam keine Erwiderung mehr. Als ich jedoch eine seichte Berührung an der Wange wahrnahm, die ich der Spinne zuordnete, stieß ich mit einem Aufquietschen gegen das Geländer, welches mit einem Ruck nachgab. Erschrocken öffnete ich die Augen, während ich nach hinten kippte. Das ist einfach nicht meine Woche. Ich sah mich schon als komisch verrenkte Leiche am Boden liegen, da wurde ich an der Bluse gepackt und wieder auf den Balkon gezogen. Stolpernd landete ich an Sukunas Brust. Das ... ist peinlich. Aufgrund der ungewollten Nähe nahm ich bei jedem hektischen Einatmen seinen Geruch auf, der eine Mischung aus Moschus, Eisen und irgendetwas anderem, das ich nicht zuordnen konnte, war. Mit jedem Atemzug dieses ganz eigenen Duftes wurde ich ruhiger. Allerdings wurde mir die Situation so auch immer bewusster, sodass ich schlussendlich stocksteif dastand und mich nicht traute auch nur mit der Wimper zu zucken. Und das noch dazu mit hochroten Wangen. Ääääääähhhhh ... wo ist der Treibsandboden, wenn man einen braucht? Nein?

Vorsichtig hob ich meinen Blick und sah wie rotbraune Auge auf mich herabblickten. Mit absolutem Desinteresse ... nur falls es jemanden interessiert. Als sich Sukuna um 180 Grad drehte und mich dabei am Blusenkragen mitzog, begann sich mein Verstand allerlei Sachen auszumalen, die mein Entführer jetzt mit mir anstellen könnte, ohne, dass mir irgendjemand helfen konnte. Allerdings ließ er nur meinen Kragen los und meinte mit diesem unergründlichen Blick: "Geh schlafen. Morgen wird ein langer Tag." Ich sah irritiert zu dem jungen Mann, ehe ich verunsichert einen Schritt zurücktrat und zwei Schritte in das Wohnzimmer machte. Dann blieb ich kurz stehen und sah über meine Schulter zurück. Machte er Scherze? Er sah nicht so aus ... Er macht keine Scherze. Bist du sicher? Bei seiner Miene kann man n-... Er macht KEINE Scherze. Ja gut.

Nach der zweifachen Bestätigung drehte ich mich wieder nach vorne und hörte noch die gelangweilte Anmerkung: "Und versuch auf dem Weg ins Bett nicht draufzugehen." So als Information ... ich ging auf dem Weg ins Schlafzimmer nicht drauf. Ich knallte nur gegen die Tür, weil ich sie aufdrücken wollte, anstatt zu ziehen ... man kann nach einer Nahtoderfahrung durchaus einfach mal vergessen, in welche Richtung die Tür ging.

Nachdem ich das Hindernis Tür überwunden hatte, sah ich mich in dem frisch geputzten Raum um und schlug seufzend die grün gemusterte Tagesdecke zurück. Seufzend legte ich mich ins Bett und kuschelte mich in das grässliche, grüne Stück Stoff. Die eigentliche Decke fiel ja mit dem Geländer vom Balkon und eine andere hatte ich nicht gefunden. Ein Glück, dass es Sommer war.

Noch einmal durchatmend fiel ich in die Kissen und schloss die Augen. Da ich ja den ganzen Vormittag verschlafen hatte, dauerte es einige Stunden, bis ich schließlich wegdriftete. Dass mir nur allzu bewusst war, dass ich im Schlaf absolut hilflos war und mein Entführer keine fünfzehn Meter entfernt war, sowie meine Begegnung mit der Spinne heute halfen auch nicht sonderlich dabei.

Lass mich dich nicht liebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt