Kapitel 8

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So sauer ich auch auf Lionel bin, noch mehr schäme ich mich für ihn. Wie stehe ich da, wenn ich irgendjemanden davon erzähle, dass er sich Nudes von einer Mitschülerin anschaut, während ich neben ihm sitze und er danach noch den Jungen verteidigt, der sie geschossen hat? Wie kann ich irgendjemanden sowas erzählen und ihn danach noch vor meiner Mutter verteidigen. Ich bin so sauer, dass ich als ich gestern Zuhause angekommen bin, erstmal vor lauter Wut und Stress mein Plüschkissen verprügelt habe. Als die Federn dann aus dem Kissen geflogen sind, musste natürlich meine Mutter genau in den Moment reinkommen. Sie hat den vollen Wäschekorb auf meiner Kommode abgestellt und mich dann mit einem typischen Mutter Blick angestarrt. Ich hab geseufzt und mich einfach in das Schlachtfeld von Federn fallen lassen.

„Was hat dir das Kissen denn angetan, Cariño. Es sieht aus, als hättest du das arme Huhn nochmal geschlachtet."
„Bitte, nicht jetzt, Mama.", war alles was ich geseufzt habe und darauf hat sie es beruhen lassen. Wenigstens ist sie nicht eine der Mütter, die so lange nerven und dich solange mit Fragen zu löchern, bis du nachgibst. Wir wissen beide, dass das bei mir weder funktioniert, noch gut ausgehen kann.

Eigentlich hab ich erwartet, dass Lionel sich nicht dazu abgeben wird, mich aufzusuchen, geschweige denn zuzugeben, dass er falsch lag oder sonst irgendwas in der Art. Dafür hat er ein viel zu wohlerzogenes Ego. Aber er hatte den Anstand mir schon einmal auf den Parkplatz zu zu rufen, was ich gekonnt ignoriert habe und wie es Gott so wollte, haben wir uns auch schnell in der Menge der Schüler wieder verloren, bevor es zu einem unangenehmen Gespräch zwischen uns kommen konnte. Versteht mich nicht falsch, natürlich will ich das geklärt haben, aber der Prozess des klären, das darüber reden und wieder einen Streit zu riskieren, das ist es, was ich so ganz und gar nicht will. Doch alle Vögel finden wohl irgendwann einen Wurm und am Ende der großen Pause war ich der Wurm und Lionel der Vogel.

„Oliv!" Als ich seine Stimme höre, die mir durch den befüllten Flur folgt, werden meine Schritte schneller, so viel schneller, dass ich Hannah hinter mir lasse. Ich strebe die Damen Toilette an, dahin kann er mir ja wohl nicht folgen. „Oliv! Oliv, verdammt jetzt wart doch mal!" Plötzlich greift sich eine Hand um meinen Oberarm und ich werde mit Ruck nach hinten gedreht. Meine geflochtenen Zöpfe fliegen um mich herum und ich bin mir fast sicher, dass einer meiner Zöpfe eines seiner Augen getroffen hat, dass sich sofort mit Wasser füllt. „Sorry", murmle ich und will mich schon auf die Zehenspitzen stellen, um Lionel richtig ins Auge gucken kann, als mir wieder einfällt, warum ich eigentlich von ihm davon laufe. Ich geh sofort einen Schritt nach hinten und versuch ihn meinen Arm zu entziehen. Sein Griff wird fester, aber noch tut nichts weh. „Lass mich sofort los, Lionel." Etwas lockerer wird sein Griff, von Loslassen ist aber noch keine Spur.

Er wischt sich eine Träne vom geröteten Augenwinkel, fasst sich dann schnell wieder. „Oliv, es tut mir leid, ja?"
„Das sagst du jetzt nur so. Das ist nicht ehrlich."
„Doch ich meine es ernst, es war falsch von mir.", versichert mir weiter und zieht mich nochmal an sich ran. Ich weich mit meinem Gesicht so weit aus, dass ich bestimmt ein Doppelkinn hab, aber das letzte woran ich jetzt denke, sind seine Lippen in der Nähe von meinen. „Worte und Taten sind zwei sehr unterschiedliche Dinge und deine Worte, die du jetzt grad mir vor laberst sind genau das Gegenteil von deinem gestrigen Verhalten.", kontere ich scharf und meine Augen werden kleiner, während ich ihn fixiere. „Ich weiß, das weiß ich doch, deswegen bin ich ja hier. Es tut mir leid, ich hätte mir weder die Fotos angucken sollen, noch Jake so in Schutz nehmen sollen. Der ist ein Arschloch und du weißt hoffentlich, dass ich sowas nie machen würde und sowas auch niemals gut heißen würde. Du kennst mich, Oliv verdammt, bin ich denn wirklich so schlecht in deinen Augen?"

Die Rolle des Unschuldigen spielt er einfach makellos und seine schönen Augen helfen mir bei meinem wütend sein auch nicht weiter. Ich presse nochmal die Lippen aufeinander, Lio zieht mich dieses Mal sanfter an sich. Der Flur um uns herum leert sich immer weiter, wir sind jetzt fast die einzigen, die noch nicht in den Klassen sind. „Ich muss zum Unterricht.", murmle ich, in der Hoffnung, dass der Themenwechseln erfolgreich sein wird. „Das ist jetzt nicht das, was ich erwartet habe, zu hören.", gibt er schmunzelnd zu und ich muss kurz zur Decke gucken. Ich liebe dieses Grinsen. Ich zähle in Gedanken leise bis Zehn, dann guck ich ihn wieder an. Gespannt schaut er mich an. „Gut, ich weiß, wie und wer du bist, jedenfalls hoffe ich, dass du noch der Freund bist, in den ich mich verliebt hab." Das Lächeln wird breiter, er wirkt fast schon erleichtert. „Natürlich, ich bin noch immer Lionel Caeser, Baby."

„Nenn mich nochmal Baby und du warst mal mein Freund." Er lacht kurz auf, bevor er mich ruckartig an sich zieht. Ihm scheint es völlig egal zu sein, dass wir hier in der Schule sind, denn seine Lippen küssen schon meine und selbst als ich den Kuss noch nicht erwidere, versucht er sich mit seiner Zunge einen Weg zwischen meine Lippen zu bahnen. Meine Hände landen auf seiner Brust und schieben ihn langsam von mir fort, bis sich sein Mund mit einem Schmatzgeräusch von meinem löst. „Nicht hier, nicht jetzt, Lio." Seine Hand taucht so schnell an meinem Rock auf, dass ich es kaum merke, erst als er das Ende meines Rockes hochschiebt. „Komm schon, die Toiletten sind leer und die Lehrer werden uns für Fünf Minuten auch nicht bestrafen." Ich schüttle den Kopf, greife nach seiner grabschenden Hand und führ sie von meinem Rock weg. „Nicht jetzt, ich muss wirklich los und du auch."

Ich befürchte schon er wird weiter drängen, aber stattdessen setzt er nur eine beleidigte Miene auf, er versucht seine Enttäuschung nicht mal zu verstecken, ich hingegen verstecke meine Gefühle in dem Moment schon. Diese Gefühle, die mir eine Gänsehaut bereiten. Ich fühl mich benutzt und die Enttäuschung in seinem Gesicht verstärkt den Funken Ekel in meinem Magen nur. „Schön, aber du bist mir was schuldig." Ich will grade mit einem Was sollte ich dir bitte schuldig sein raus platzen, als er mir nochmal einen Kuss aufdrückt und dann auch schon genauso schnell wieder den Flur runter verschwindet. „Verflucht, Lionel.", murmle ich mir selbst zu, als er mich verlässt und ich mich ebenfalls auf meinen Weg zum Unterricht mache.

Den ganzen restlichen Tag werde ich diese Gedanken nicht los, dass ich hätte hartnäckiger sein sollen. Er hat sich mal wieder Scheiße erlaubt und ich hab ihm mit einer einfachen Entschuldigung davon kommen lassen.

„Oliv, jetzt such doch endlich einen Film aus!" Ich schüttle mich kurz. Ich war kurz in meinen Gedanken verschwunden, kurz war ich wieder im Flur mit Lionel, bin alle möglichen Antworten durchgegangen, die ich ihm hätte liefern können und bin immer mehr zu dem Schluss gekommen, dass meine Reaktion viel zu einfach und harmlos für ihn war. Dabei bin ich grad auf dem Sofa mit Paula und nicht in der Schule mit Lio. „Sorry, was wolltest du nochmal gucken?" Die Fernbedienung die in meiner kurzen Trance in meiner Hand nutzlos da lag, richte ich wieder auf den TV und skippe ein bisschen durch die Kinderfilme bei Netflix. Die Frage hätte ich mir eigentlich sparen können, da Paula jeden Monat einen neuen Lieblingsfilm hat, den wir dann immer in Dauerschleife schauen müssen, bis dieser von irgendeinem neuen Meisterwerk abgelöst wird. Diesen Monat ist es Space Jam und mittlerweile kann ich wirklich jede Zeile in diesem Film auswendig.

„Space Jam", antworten wir beide gleichzeitig auf meine Frage. „Ich weiß, ich weiß."
Paula macht es sich neben mir noch einmal so richtig gemütlich, stapelt sich unter ihren Hintern zwei Kissen, damit sich genauso hoch sitzen kann wie ich und legt dann ihren lockigen Kopf auf meine Schulter. Die gelben Haargummis, die sie heute in den Haaren hat, haben kleine Glöckchen an sich, so dass sie bei jeder noch so kleinsten Bewegung klingelt wie ein laufender Christbaum.

Während des Films erlaube ich mir immer mal wieder einen Blick aufs Handy, denn stellt euch mal vor, nicht jeder Teenie sitzt an einem Freitag im Wohnzimmer mit seiner Sechs jährigen Schwester und guckt einen Kinder film. Ich hab mir vorgenommen, dass wenn ich schon nicht an dem Nachtleben meiner besten Freundinnen oder meines Freundes Teil habe, dass ich doch wenigstens auf den aktuellen Stand bin. Aber Lionel schreibt mir den Abend über nur einmal, dass er mit seinen Freunden aus dem Team etwas spielen ist und Hannah schreibt mir, dass sie heute ihren Freitag auch mit der Familie verbringt. Dafür dass Lionel so wenig vor hat, schreibt er mir den Abend über aber ziemlich wenig.

„Jetzt leg doch mal das blöde Handy weg."
„Paula.", warn ich sie, aber sie hat sich mit ihren kleinen Körper schon über meinen Schoß gelehnt, um mir das Handy aus meiner Hand zu reißen. Bevor irgendein Missgeschick passiert, gebe ich nach und leg den Kopf in den Nacken, als sie mein Handy ans andere Ende der Couch legt und mir mit einen strengen Blick und erhobenen Zeigefinger, böse zu schimpft. „Guck den Film mit mir oder ich schneid dir in all deine Socken Löcher."
„Deine Bastelscheere ist dafür nicht scharf genug.", ziehe ich sie auf und muss grinsen, als sie die Arme vor der Brust verschränkt und ihr Blick noch fieser wird. „Ja, ist schon gut, ich guck ja."
Eine gute Sache hatte das ganze, ich denke nicht mehr die ganze Zeit über Lionel nach, sondern kann mich wirklich vom Film ablenken lassen.

Farbenfroh |✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt