Kapitel 30

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Natürlich waren nach dem Gespräch mit meiner Mum nicht alle Probleme gelöst, aber ich bin wieder auf die Beine gekommen und war Montag auch normal in der Schule. Zwar ebenfalls ruhiger, und immer darauf aus Gesprächen, Fragen und besonders Lionel aus dem Weg zu gehen. Und egal, wie sehr ich mich nicht darauf konzentrieren will, schweifen meine Gedanken doch den ganzen Tag zu Ezra ab. Erst dachte ich, ich würde das alles easy hinkriegen. Einfach weiter machen, einfach nichts machen. Denn das ist es schließlich, was Lionel von mir verlangt, nichts. Ich soll mich aus seinem Leben und eben aus Ezras raus halten, aber wer hätte gedacht, dass mir der Junge schon so ans Herz gewachsen war, dass mich wirklich alles an ihn erinnert? Rotes Auto? Ezra. Weißes Hemd? Ezra. Lionel auf dem Gang? Ezra. Grüne Augen? Ezra. Ein buntes Bild an der Wand im Klassenraum? Ezra.

Es ist als wäre ich besessen von ihm und ich kann auch nichts dagegen tun, dass ich mir die Frage stelle, ob es ihm vielleicht genau so geht? Muss er genau jetzt auch an mich denken? Wird er an mich denken, wenn er sein nächstes Bild malt? Oder wenn er an meiner Schule vorbei fährt? Und wird er auch noch an mich denken, wenn er in ein paar Wochen wieder auf der Uni ist? Kilometer und Tage, Wochen und dann irgendwann Monate von mir getrennt?

Ich hätte fragen sollen auf welche Uni er geht, aber das wäre wahrscheinlich doch nicht eine so gute Idee gewesen. Wahrscheinlich wäre ich so leichtsinnig gewesen und hätte mich sogar für die gleiche Uni beworben. Mittlerweile hab ich schon all meine Zu und Absagen und muss mich nur noch zwischen Zwei entscheiden und die Entscheidung sollte ich bald treffen, denn der letzte Schultag ist schon diese Woche Freitag. Der dazugehörige Abschlussball findet noch am gleichen Tag statt und das Kleid dafür hab ich auch schon. Eigentlich wäre ich mit Lionel gegangen, aber das geht natürlich nicht mehr. Meine einzige Begleitung für den Abend wird der heimlich rein geschmuggelte Alkohol sein und Hannah.

Am Dienstag setz ich mich noch einmal hin, um die Vor und Nachteile der beiden finalen Unis durch zugehen, die ich alle sorgfältig in eine Tabelle eingeordnet habe.
Ich bin irgendwann so sehr in meinem Element drinnen, dass ich weder das Klingeln unten an der Haustür mitkriege, noch das Klopfen kurz drauf an meiner Zimmertür. Erst als die Tür aufgeht und ein dunkles „Hey" mich erreicht, bin ich wieder in der Realität angekommen und falle fast vom Stuhl, als kein geringerer als Ezra vor mir steht. Er ist sofort bei mir, als ich beinahe mit dem Stuhl hinten über kippe. Er hält nicht nur die Stuhllehne, sodass ich wieder auf dem Boden ankomme, sondern auch meinen Arm, damit ich nicht vom Stuhl rutsche. Als ich wieder sitze und der Stuhl steht, starr ich ihn nur an und er mich. So geht das für einen ganzen Augenblick, bis...

„Was tust du hier?!", das platzt sofort laut aus mir heraus, als mein Gehirn richtig verarbeitet hat, wer der in meinem Zimmer vor mir steht und was das zu bedeuten hat. „Wie bist du hier rein gekommen?!" Ich winde mich aus seinem Griff, seine Hand rutscht sofort von meinem Arm und als ich aufspringe, weicht er einen Schritt zu Seite aus. Ich renne zur Tür, gucke auf den Flur raus, aber niemand ist zu sehen, ich kann nur meine Mum und das Klirren von Tellern hören. Die Tür schleiße ich hinter mir, als ich wieder in meinem Zimmer bin. Ezra vor mir, die Tür hinter mir, das einzige, was mich grad stabil auf den Beinen hält. „Wer hat dich rein gelassen?!"
„Deine Mum, ich..."
„Du darfst nicht hier sein!", flüster-schrei ich und in mir steigt sofort die Panik hoch. Was ist wenn Lionel, ihn hier her geschickt hat, um mich auf die Probe zu stellen? Oder wenn Lionel Ezra gefolgt ist? Was ist wenn er es weiß oder herausfindet, dass er hier ist? Und ich mit ihm rede? Oh Gott, dann...

Weiter will ich das Szenario gar nicht spinnen. „Ich will mit dir reden, Diaz."
„Nein! Nein, das geht nicht. Du musst sofort gehen." Ich drücke mich von der Tür weg und gehe ein paar Schritte nach vorn, um nach seinem Handgelenk zu greifen. „Du kannst nicht hier sein. Das darfst du nicht.", erkläre ich weiterhin ohne Kontext und will ihn auf der Stelle zur Tür zerren.
„Hey, was ist denn bitte los? Können wir nicht reden?"
„Nein, können wir nicht." Er ist mir nur einen Schritt gefolgt, dann dreht er den Spieß schon um. Ich werde am Handgelenk zurück gezogen. Dann gedreht und schon bin ich zwischen Schreibtisch und Ezra eingesperrt.

Er legt jeweils eine Hand auf eine Seite neben mir auf die Platte des Schreibtisches. „Ich gehe so lange nicht, bis du mir gesagt hast, was hier los ist?"
„Nichts ist los.", entgegne ich unsicher. „Du musst einfach nur gehen."
„Ich gehe, wenn du mir einen Grund gibst."
„Ich sage es!", gebe ich lauter zurück, aber Ezra zuckt mit keiner Miene. Verdammt, sah der das letzte Mal genauso gut aus, wie jetzt grade? „Das ist kein Grund, Diaz. Warum bist du am Freitag abgehauen, ohne mir nur ein Wort zu sagen? Warum antwortest du nicht auf meine Nachrichten oder Anrufe? Was. Ist. Los." Ich press die Zähne auf einander. Wie soll ich ihn abwimmeln, ohne etwas zu verraten? Denn es ist sicher, dass wenn ich was verrate, bald Ezra und Lio nicht einzig beiden sind, die mich nackt gesehen haben.

„Du musst einfach gehen, okay?" Mit meiner Tonveränderung, ändert sich auch seiner. „Hab ich was getan? Wegen dem Sex, ich versichere dir-"
„Nein!" Ich lege ihm, ohne vorher drüber nach zu denken, die Hand auf die Brust. „Nein, das ist es nicht. Gar nicht. Das war alles gut, besser als gut, aber du musst trotzdem gehen."
„Du verschweigst mir was."
„Tu ich nicht."
„Ich kenne dich."
„Du kennst mich überhaupt nicht. Bitte, geh. Ich kann... ich will das nicht. Du kennst mich nicht und ich dich nicht, ja?" Die Lügen kommen mir nicht einfach über die Lippen, aber einfacher, wenn ich mir weiter einrede, dass doch etwas Wahrheit in ihnen steckt.

„Natürlich, kenn ich dich Diaz. Man muss eine Person nicht Jahre lang kennen, um zu wissen, wenn sie einen ins Gesicht lügt." Mir wird heiß, zum einem, weil er sich nicht abwimmeln lässt und zum anderem, weil sein Körper mich grade so sehr einschränkt, dass ich mich in keine Richtung bewegen kann, ohne ihn zu berühren. „Das mit uns... das hätte nie was werden können. Das weißt du. Wir sind zu verschieden. Ich bin die Ex deines Bruders, ich bin nicht eine dieser blonden, dünnen Mädels von deiner Universität und das Geld die zu sein, hab ich auch nicht. Ich kann damit leben, dass wir Sex hatten, aber ich kann nicht damit leben, wenn du mir weiter versuchst zu verklickern, dass aus uns irgendwas hätte mehr werden können."

„Was redet du da denn bitte für einen Scheiß, Diaz?" Mein Mund fällt auf und ich starr ihn entsetzt an. „Hat dir Lionel sowas eingetrichtert? Hat der die so einen fucking Schwachsinn eingetrieben?"
„Nein, hat er nicht." Hat er doch. „Ich weiß das. Ich kenn so Typen wie dich. Ich kenn die alle, du wolltest mal was anderes und glaub mir der Sex war fantastisch, das kannst du echt gut." Ich versuch das Zucken seines Mundwinkels einfach zu ignorieren, das auftaucht, als ich seine Fähigkeiten beiläufig lobe. „Aber so ein Mädchen, wie mich, das ist nicht das Mädchen, was du suchst. Ich hab nicht die perfekte schlanke Figur, oder die Titten oder den Style dafür, neben dir zu stehen und mich als deine Freundin zu bezeichnen. Und damit kann ich leben wirklich. Aber bitte versuch mir nicht zu erklären, dass du es ernst meintest und dass du mich nicht sofort ersetzen wirst, wenn du wieder auf die Uni gehst."

„Das ist, was du denkst?" Ich bin mir nicht ganz sicher, wem seine Wut gerade gilt oder ob das, was ich in seiner Stimme höre, wirklich Wut ist. „Ich weiß es.", flüstere ich und kann seinen heißen Atem auf meiner Haut spüren. Als ich an uns herab gucke, sehe ich, wie sich seine Hände auf dem Tisch zu Fäusten geballt haben. „Das ist es was du denkst?", knurrt er noch einmal. „Ja.", hauche ich so unsicher, dass man es kaum hört. „Bullshit", ist erst einmal alles, was er hervorbringt. „Das ist Bullshit. Lüg mich nicht an, ich weiß, dass du nicht so bist, Olivia." Meinen Vornamen hat er bis jetzt noch nie so genutzt. Ich bin sofort wie versteinert. „Was ist wirklich los? Denn den Scheiß, glaub ich dir nicht."

„Es... es ist wahr.", stottere ich. Meine Lügen werden immer schlechter. „Sag mir, was los ist, bitte. Ich will dich hier nicht so stehen lassen. Nicht wenn das, deine letzten Worte waren. Nicht wenn deine letzten Worte, scheiß Lügen waren."
Ich kneife die Augen frustriert zusammen. Wie soll ich mich an Lionels Bedingungen halten, wenn das Ezras Reaktion auf mein Schweigen ist? Wie kann ich meine Würde bewahren, ohne Ezra zu belügen?

„Du kannst nichts tun."
„Wo gegen?" Als ich die Augen wieder öffne, lehnt er noch immer über mir. Nur kommt mir sein Gesicht jetzt viel näher vor, als noch vorhin. „Du kannst nichts tun, weil Lionel..." Ich schlucke, denn die Worte bleiben mir einfach im Hals stecken. „Was? Was ist mit ihm? Was hat er getan?" Aber die Worte kommen nicht heraus und alles, was ich tun kann, ist wieder die Augen zu schließen und mir zu wünschen, das alles, würde endlich ein Ende nehmen.
Ich sag nicht, ich kann einfach nicht und so sagt auch Ezra eine Weile nichts mehr. Ich denke schon, er würde gleich einfach gehen und alles so stehen lassen, wie es jetzt ist. So wäre es auf jeden Fall das beste.

„Ich bin schon lang in dich verliebt, weißt du?"

Farbenfroh |✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt