22. Kapitel

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     Julio umklammerte mein Bein ganz fest, als könnte er so verhindern, als der Tür zu gehen. Damir sah ihn traurig an, ging aber zur Tür, an der es gerade geklingelt hatte. Zu meiner Überraschung schien Julio seine Eltern nicht wirklich vermisst zu haben. Wie auch? Wir hatten ich jede Stunde des Tages beschäftigt.
     Es ehrte mich zwar, dass er nicht von mir weg wollte, auf der anderen Seite fragte ich mich aber, warum er nicht mit seinen Eltern nach Hause wollte. Er hatte jeden Tag mit seinen Eltern telefoniert und hatte nicht so gewirkt, als hätte er sie vermisst. Warum, konnte ich nicht sagen.

     »Wieso möchtest du denn nicht nach Hause?«, fragte ich und strich ihm über das Haar. Julio drückte sie noch enger an mich heran. »Meine Eltern sind ja schon älter. Meine Geschwister sind auch schon alt. Die Jüngste ist 21. Meine Eltern sind bald 60 und ich... ich bin einfach so jung, aber niemand möchte etwas mit mir machen.«
     So langsam verstand ich, worauf er hinauswollte. Er war der jüngste. Eine spontane Entscheidung der beiden gewesen, wie Damir mir verraten hatte. Jetzt stand der kleine Kerl hier und wollte nicht nach Hause, weil er dort nicht gleichen Spaß wie hier haben würde. Seine Eltern waren schneller müde.
     Und seine Geschwister teilten auch nicht gerade die gleichen Interessen eines bald Fünfjährigen. Deswegen verstand ich, warum er nicht gerade erfreut war. Als Damir die Tür öffnete, schien er sich hinter mir verstecken zu wollen. Er wollte nicht gesehen werden. Natürlich dienten meine Beine nicht gerade als der beste Schutz.
     Sie sahen ihn sofort. Seine Mutter runzelte verwirrt die Stirn und sein Vater legte den Kopf schief, als könnte er so verstehen, warum sein Sohn sich versteckte. Seine Mutter breitete die Arme aus, doch Julio rührte sich nicht.
     Ihr fragender Blick traf mich und ich zuckte innerlich zusammen. Nicht gut. Was sollte ich antworten? Sie dachte sicherlich, dass das meine Schuld war. So leid es mir auch tat, ich versuchte Julio von mir zu schieben, doch er klebte an mir. Fest und unnachgiebig. Er löste sich einfach nicht von mir. Egal was ich versuchte.

     Damir kam seufzend zu uns. »Komm schon, Julio. Deine Eltern haben dich vermisst und wollen nun mit dir nach Hause. Sie wollen noch vor dem Abendessen zurück sein. Du weißt, dass ihr die Fähre bekommen müsst.«
     Julio schmollte. »Sie können doch auch ohne mich fahren. Ich will bleiben.« Damir kratzte sich am Nacken und sah zu seinem Onkle, dann sah er Julio wieder an. »Du hast doch in zwei Monaten Geburtstag. Da komme ich dich besuchen. Mit Feniks.« Mein Herz... mein kleines Herz schlug nicht mehr. Nur um daraufhin wie wild zu pochen. Er will mich hier behalten.
     Eigentlich sollte das keine Überraschung sein, doch das war es. Irgendwie. Ein Teil in mir hatte einfach erwartet, dass er mich vielleicht doch nicht hier haben wollte. Warum auch immer. Julio verzog das Gesicht.
     »Das dauern noch soooo lang«, jammerte er auf Englisch, so gut wie er eben konnte. Seine Eltern sahen uns beide an. Ihre Blicke brannten auf mir. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Was sie wohl denken? Bitte denkt nicht, dass wir euch das Kind ausspannen möchten... bitte nicht.
     »Wir können doch auch noch telefonieren«, schlug ich vor. Julio sah mich an, dann schüttelte er wild mit dem Kopf. »Das nicht das Gleiche.« Davon schien er sehr überzeugt zu sein. Fest klammerte er sich weiterhin an mich an und schien nicht mehr loslassen zu wollen. Egal wie oft ich versuchte ihn von mir zu schieben.

     Damir kam nun heran und kniete sich zu ihm. In seinem Blick lag eine gewisse Stränge, gepaart mit Liebe. Eine merkwürdige Kombination, die ich so noch nie an ihm gesehen hatte. Er legte die Hand auf Julios Schulter.
     »Deine Eltern lieben dich und wollen mit dir nach Hause fahren. Wir sehen uns doch bald wieder. Sie haben dich vermisst. Wenn du zu ihnen gehst, sehen wir uns auch bald wieder. Aber du kannst dich nicht so an Feniks klammern, wenn deine Eltern dich doch vermisst haben.«
     Julio sah ihn an, doch Damir war noch nicht fertig. »Das verletzt deine Eltern auch. Ich weiß, dass es manchmal nicht leicht ist, aber das ist es nie in einer Familie. Sie haben dich sehr lieb und wollen gerne mit dir nach Hause.« Julios Griff um mein Bein lockerte sich und schließlich ließ er mich los.
     Er nickte und sah mich noch einmal an. Ein zaghaftes Lächeln zupfte an seinen Lippen, dann umarmte er Damir. Dieser lächelte und küsste seinen Kopf, ehe er ihm durch die Haare fuhr. Julio lachte, dann ging er zu seinen Eltern und umarmte auch diese. Grinsend sah ich ihm dabei zu. Problem gelöst.
     Fürs Erste. Damirs Onkel nickte ihm dankbar zu und die beiden wechselten ein paar Worte auf Kroatisch, während die Frau mich eingehender musterte. Wage erinnerte ich mich an sie. Wir hatten uns gerade mal zweimal gesehen. Vermutlich erinnerte sie sich nicht an mich.

Das Rätsel der GefühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt