27. Kapitel

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Der Sonntag entpuppte sich als kühler Tag, mit ein bisschen Wind und Regen. Die Temperatur war langsam in den Keller gesunken und da ich meine Tage hatte, schlüpfte ich in den Jumpsuit, der mich schön wärmte, während ich neben Damir auf der Couch saß. Stumm sahen wir beide aus dem Fenster.
Seit gestern war es etwas anders. Seitdem ich eröffnet hatte, dass ich noch einmal zu ihr gehen würde, war da Angst in seinen Augen. Die Art, wie er mich fest umarmte, zeigte mir, dass er mich nicht gehen lassen wollte. Er tat es unbewusst.
Damir war sonst immer ehrlich zu mir. Vielleicht an manchen Stellen zu ehrlich. Doch in diesem Moment war er in sich gekehrt. Sein Gehirn erinnerte sich an Dinge, die damals geschehen waren. Er hing in der Vergangenheit und diese Angst breitete sich nun in der Gegenwart aus.
Lange sah er einfach schweigend aus dem Fenster, bis ich es kaum noch aushielt. Ich wollte, dass er mit mir sprach. Mit mir lachte. Witze riss oder mich küsste. Jedoch tat er nichts von all dem. Er saß einfach nur da und war tief in Gedanken versunken. Ich musste nicht mal fragen, wo er war.

Sein Blick zeigte es eindeutig. In der Vergangenheit. Sein Gehirn erinnerte sich vermutlich an mehr, als meins, weil es für ihn ein Schlag in den Magen gewesen war. Nun war ich aber hier und hatte nicht vor die Vergangenheit zu wiederholen. Nur weil ich mit meiner Mutter reden würde, bedeutete das nicht, dass ich mit ihr gehen würde. Denn das würde ich nicht.
Nur schien es ihm schwer zu fallen, sich darauf zu verlassen. Damir ließ die Vergangenheit nur selten los. Ich wusste nicht, ob das ein Fluch oder ein Segen sein sollte, wenn man sich an alles in seinem Leben so gut erinnern konnte. Die meisten Dinge waren schon schleierhaft für mich, doch er sah sie noch klar vor sich.
Vermutlich spürte er den Schmerz noch so deutlich wie damals. Er hielt daran fest. Klammerte sich fast an die Erinnerung. Das sollte er aber nicht, denn das war schlecht. Sehr schlecht. Seinem Blick nach zu urteilen und seiner angespannten Haltung war er aber in der Vergangenheit und erinnerte sich an alles.
Verdammt. Er erinnerte sich einfach an alles... In der Hoffnung ihn aus allem herauszureißen, drückte ich einen Kuss auf seine Schulter. Keine Reaktion. Der nächste Kuss landete auf seinem Hals. Seine Reaktion endete in einem Zucken seines Körpers. Mehr aber auch nicht.
Ein nächster Kuss landete auf seiner Wange. Nichts. Keine Reaktion. Mein nächster Kuss landete dann auf seinem Mundwinkle und entlockte ihm ein leises Keuchen. Erst dann drehte er seinen Kopf zu mir und sah mich mit verklärtem Blick an.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sein Blick hinter der Brille klarer wurde. Er seufzte. »Ich war in Gedanken, nicht wahr?«, fragte er leise. Ich nickte. Damir rieb sich über die Stirn. »Tut mir leid. Ich versuche wirklich nicht daran zu denken, aber es fällt mir nicht leicht. Immer wieder sehe ich die Szene vor mir, wie ich nach Hause kam und ihr einfach weg wart. Einfach so.«
Mein Herz zerbrach bei dem Schmerz in seiner Stimme. Wieder einmal wurde mir bewusst, dass ich ihm damals das Herz gebrochen hatte. Nicht nur einmal. Damir hatte so viel mehr verdient, doch er wollte mich. Nur mich. Egal, was ich getan hatte. Er saß hier und wollte mich.
Trotzdem schnürte ihm die Angst die Kehle zu. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Von der Tatsache, dass ich mit meiner Mutter sprechen wollte. Er wirkte verwirrt und verängstigt. Damir holte tief Luft und sah mich an.
»Ich will ehrlich zu dir sein. Denn ich bin immer ehrlich. Ich bin stolz auf dich. Das bin ich wirklich. Gleichzeitig aber habe ich Angst, dass das Gleiche passiert, wie als wir Teenager waren. Ich könnte das nicht noch mal überstehen. Ich weiß eigentlich, dass du mir das nicht mehr antust. Ich sehe es in deinen Augen, doch ich... ich kann mit der Vergangenheit noch nicht abschließen. Diese Szene spielt sich immer wieder vor meinen Augen ab.«

Seine Ehrlichkeit überraschte mich nicht, gleichzeitig aber spürte ich, dass es ihm schwerfiel, seine Angst zuzugeben. Es fiel ihm wirklich schwer. Er schien nicht zu wissen, was er sagen sollte. Er schien es einfach nicht zu wissen. Immer wieder holte er tief Luft, doch ich sah in seinen Augen, dass es ihm schlecht ging.
Sah den Kampf darin. Die Wut. Er mochte meine Mutter nicht. Was verständlich war. Er versuchte auch nicht wirklich es zu verstecken. Damir mochte sie nicht. Von Hass wollte ich nicht sprechen, aber ich wusste, dass er sie nicht mochte. Wie auch? In seinen Augen war meine Mutter die Person, die mich kaputt gemacht hatte.
Mich eingesperrt hatte. Meine Mutter mochte meinen, dass er sie nicht mochte, weil sie mich ihm weggenommen hatte, doch ich kannte ihn besser. Das war nicht sein Problem. Jedenfalls nicht sein Größtes. Das größte Problem war, dass er mitansehen hatte müssen, wie sie mich verändert hatte.
Wie sie mein wahres Ich einfach ausgelöscht hatte, als hätte es nie existiert. Das war Schlimmste daran. Damir hatte mitansehen müssen, wie sie mich ausgelöscht hatte, mit allem, was er geliebt hatte. Er hatte es mitansehen müssen und darüber kam er nicht hinweg. Denn es stimmte.
Sie hatte mich ausgelöscht. Mein wahres Ich. Bis ich nur noch ein Schatten meiner selbst gewesen bin. Jetzt war ich wieder ich selbst. Deswegen wusste ich nun auch, wie ich mit ihr umzugehen hatte. Ich wollte sie nicht verlieren, aber in dem Prozess sie zu behalten, wollte ich mich nicht erneut selbst verlieren.
Mein ganzes Leben lang hatte ich es nur allen recht machen wollen, hatte nach Liebe gestrebt und war blind gewesen. Jetzt sah ich die Dinge, wie sie waren. Sah es klar und deutlich vor mir. Nie wieder würde ich mich so für jemanden verbeugen. Nie wieder. Nach Liebe zu streben war nicht unbedingt schlimm, doch es sollte nicht das einzige Lebensziel sein.

Das Rätsel der GefühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt